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# taz.de -- Die FDP in der Coronakrise: Blick nach rechts – in den Abgrund
> Thomas Kemmerich stürzt die FDP mit seiner Nähe zur AfD in die Krise. Nun
> zeigt sich, wie abhängig sie von Parteichef Lindner ist.
Bild: Trägt zur Abwechslung mal Mundschutz: Thomas Kemmerich
Berlin taz | Thomas Kemmerich, FDP-Chef in Thüringen und
Kurzzeit-Ministerpräsident in Erfurt, schlenderte am vergangenen Wochenende
mit offenem Hemd und ohne Maske durch Gera. Er plauderte mit dem
Demoveranstalter, einem CDU-nahen Unternehmer. Auf Plakaten war zu lesen:
„Wo Unrecht zu Recht wird, wird Widerstand zur Pflicht.“ Mit Unrecht ist
die Pandemie-Bekämpfung gemeint. Unter den paar Hundert Demonstranten war
auch AfD-Mann Stephan Brandner.
FDP-Parteichef Christian Lindner reagierte rasch. „Wer sich für
Bürgerrechte und eine intelligente Öffnungsstrategie einsetzt, der
demonstriert nicht mit obskuren Kreisen“, twitterte er. Doch der Fall war
damit noch längst nicht erledigt.
Kemmerich hatte sich vor drei Monaten von der AfD zum Ministerpräsidenten
wählen lassen. Lindner ließ die Sache erst mal laufen, ehe er spät begriff,
dass die Liberalen mit dem De-facto-Bündnis mit der rechtsextremen
Höcke-Truppe in ihre tiefste Krise seit Langem taumelten. Seit Gera gibt es
wieder die gleiche Frage wie im Februar: Wo ist in der FDP die
Grenzmarkierung nach rechts?
Carsten Schneider, parlamentarischer Geschäftsführer der
SPD-Bundestagsfraktion, urteilte scharf: Kemmerich habe den rechten Protest
mit der AfD geadelt – „wenn er denn noch eine Reputation hat“. Aber auch
innerparteilich rumort es kräftig. FDP-Bundesvorstandsmitglied Marie-Agnes
Strack-Zimmermann forderte den Rauswurf des Thüringer Wiederholungstäters.
Kemmerich suche „nicht nur physisch die Nähe zur AfD, sondern auch zu
Verschwörungstheoretikern und hat inzwischen wohl auch Gefallen an deren
demokratiezersetzendem Kurs gefunden“, empörte sich die Düsseldorfer
Bundestagsabgeordnete.
## Dünne Grenze zu den Hygienedemos
Nach einer Krisensitzung des FDP-Vorstands am Mittwoch war klar, dass der
Rechtsabweichler sein Amt im Vorstand [1][erst mal ruhen lässt]. Doch
beendet ist die Affäre mit diesem Formelkompromiss nicht. Denn es geht um
Grundsätzliches: Will die FDP die staatstragende Partei bleiben, die sie
lange war? Oder öffnet sie sich dem lautstarken wutbürgerlich gestimmten
Publikum?
Die zentrale Rolle dabei spielt Partei- und Fraktionschef Christian
Lindner. Doch was der will, ist deutungsoffen. Mal gibt er den seriösen
Oppositionspolitiker, mal klingt er wie ein Populist. Im April wetterte er
im Bundestag, dass die Regierung mit der Schließung der Restaurants „die
gesamte Gastronomie diskriminiert“ – also dass es ihr nicht um
Gesundheitsschutz geht, sondern darum, einer Branche mutwillig zu schaden.
Da wird die Grenze zu dem Sound der Hygienedemos sehr dünn.
Und auch zu Soloauftritten von Leuten wie Kemmerich, die zwar Distanz zur
AfD behaupten, aber im Zweifel keine Berührungsängste haben. „Kemmerich hat
den Spielraum, den Lindner bewusst lässt, jetzt zum zweiten Mal
missinterpretiert“, so SPD-Mann Schneider.
Schon 2015 kokettierte Lindner mit der Wut auf Merkels Flüchtlingspolitik.
2017 stoppte er die Jamaika-Verhandlungen: „Es ist besser, nicht zu
regieren, als falsch zu regieren.“ In einer Regierung mit Merkel und den
Grünen würde die FDP ihre Profil verlieren, so Lindners Befürchtung. Aber
welches Profil? Als bei den Fridays-for-Future-Demos Hunderttausende auf
die Straßen gingen, beschied Lindner kühl, komplexe Dinge wie Klimaschutz
seien nur was „für Profis“.
## Ohne Lindner geht nichts
Die FDP ist, anders als Grüne oder [2][Linkspartei], extrem auf ihren alles
überstrahlenden Chef fokussiert. Ohne Lindner geht nichts. Das ist in einem
krisenhaften Moment wie dem derzeitigen ein Malus.
Der Einzige, der in der Öffentlichkeit als politisches Gegengewicht oder
Korrekturzeichen wahrgenommen werden würde, ist Wolfgang Kubicki,
Vizepräsident des Bundestags und Vize-Chef der FDP. Lindner und Kubicki
bilden seit 2013 das Machtzentrum der Partei. Doch als Ausputzer in der
Krise taugt Kubicki nicht – im Gegenteil.
Der 68-Jährige, lange Außenseiter im freidemokratischen Kosmos, weil er als
unberechenbarer und illoyaler Polithallodri galt, ist gescheit und
schlagfertig. Aber das schützt ihn nicht vor Grenzüberschreitungen. In der
Thüringen-Krise wirkte er wie ein Brandbeschleuniger. „Es ist ein
großartiger Erfolg für Thomas Kemmerich“, jubilierte Kubicki unmittelbar
nach dessen Wahl von Höckes Gnaden. „Ein Kandidat der demokratischen Mitte
hat gesiegt.“
Ob es um den rigiden Kurs in der Flüchtlingspolitik, die Haltung zu Fridays
for Future oder aktuell die populistischen Kontrapunkte in der Coronakrise
geht – Kubicki funkt auf der gleichen Frequenz wie Lindner. Manchmal klingt
er noch schärfer. In einer Talkshow kritisierte er kürzlich die
Pandemie-Einschränkungen. Die Bürger seien für ihre Gesundheit selbst
verantwortlich: „Wenn jemand Angst hat, soll er zu Hause bleiben.“ Offenbar
hat den Instinktpolitiker Kubicki der politische Instinkt verlassen.
Die FDP rutscht in Umfragen derzeit bedrohlich Richtung fünf Prozent.
Krisen würden eben stets der Regierung nutzen und der Opposition schaden,
hört man aus der Parteispitze. Es klingt nach Selbstberuhigung. Nur: Der
Abwärtstrend begann davor. Von einer Lindnerdämmerung wollen trotzdem auch
weniger marktradikale und rhetorisch zurückhaltendere Nachwuchspolitiker
wie Johannes Vogel oder Konstantin Kuhle nichts wissen. Doch die
Verunsicherung wächst.
14 May 2020
## LINKS
[1] /Nach-Anti-Coronademo-in-Gera/!5685603
[2] /Die-Linkspartei-in-der-Coronakrise/!5681811
## AUTOREN
Stefan Reinecke
Pascal Beucker
## TAGS
Schwerpunkt AfD
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Hygiene-Demo
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