# taz.de -- Die Wahrheit: Glückskekse für die Ewigkeit | |
> Gerade in Krisenzeiten zeigt sich mit äußerster Dringlichkeit: Augen auf | |
> bei der Berufswahl als Künstler vom Fach „Irgendwas mit Wörtern“. | |
Bild: Auch Goethe und Schiller waren zuletzt im Krisenmodus und blieben zu Haus… | |
Die in diesem Frühjahr ausgefallene Leipziger Buchmesse hat es allen vor | |
Augen geführt: Systemrelevant sind Schriftsteller zwar nicht, aber ohne | |
steht man auch blöd da, jedenfalls als Buchmesse. Weimar, um nur ein | |
Beispiel aus dem heimischen Hochbeet zu zupfen, wäre ohne seine Erbauer | |
Goethe und Schiller praktisch nicht zu dem geworden, was es heute ist. Nun | |
hat nicht jeder das Zeug zum Dichterfürsten oder zur Dichterfürstin, doch | |
ein wenig Talent schlummert in jedem. Soll man aber auf „ein wenig Talent“ | |
eine Berufskarriere aufbauen? | |
Die Berufswahl gehört zu den wichtigsten Fehlentscheidungen, die man in | |
seinem Leben zu treffen hat. Wer meint, er müsse unbedingt „Irgendwas mit | |
Wörtern“ machen, weil „ich schon als Kind immer mal Wörter und so gesagt | |
habe“, der sollte über den Beruf des Dichters nachdenken. Aber Achtung: | |
Hinter der romantischen Bezeichnung Dichter verbirgt sich ein harter | |
Berufsalltag, der in der Regel ohne jede Aussicht auf Reputation, Einkommen | |
und hysterische Fans daherkommt. Wer diesen Irrweg dennoch einschlägt, | |
sollte nichts dem Zufall überlassen, sondern zielorientiert vorgehen und | |
den kindlichen Wortspielen zu Hause alsbald eine fundierte Ausbildung | |
folgen lassen. | |
Die erste Ausbildungsstufe im Bereich Wort führt zum Wort-fachangestellten. | |
WoFas verfassen Klingelschilder oder ergänzen in Martin-Walser-Manuskripten | |
die Seitenzahlen; manche schaffen aber auch den Durchbruch als | |
Glückskekstexter und erreichen damit Auflagen, von denen Vertreter der | |
Hochliteratur nur träumen können. | |
Wem das nicht genug ist, der kann einen praxisorientierten Abschluss als | |
Wortfachwirt erwerben, zum Beispiel am Leipziger Literaturinstitut. Dieser | |
befähigt zum Verfassen von Texten mit ganz vielen Gedanken drin, die | |
allerdings für die meisten Klingelschilder zu lang, als Seitenzahlen | |
ungeeignet und in Glückskeksen wegen ihres latent suizidalen Inhalts häufig | |
Anlass für Trinkgeldkürzungen durch verärgerte Gäste in China-Lokalen sind. | |
## Stadtschreiber in Kleinstädten | |
Eine akademische Ausbildung, mit der man praktisch alles machen kann, außer | |
seinen Lebensunterhalt verdienen, ist die zum Master of Writing. MoWs lesen | |
selbst Beckett und Johnson, bewerben sich in wohlhabenden westdeutschen | |
Kleinstädten als Stadtschreiber, versuchen seit Jahren vergeblich einen | |
Essay in der Zeit unterzubringen und haben bereits mehrere abgelehnte | |
Romane verfasst, in denen es um einen erfolglosen Schriftsteller im Berlin | |
nach der Jahrtausendwende geht. Wenn MoWs jemanden verachten, dann | |
Kollegen, die ein erfolgreiches Buch geschrieben haben und die sie deshalb | |
nicht mehr am Wartenummernautomaten in der Hartz-IV-Behörde treffen. | |
Hat man eine dieser Ausbildungen hinter sich, steht einem grundsätzlich die | |
ganze bunte Berufswelt des Wortes offen. Oft tun sich auch abseits der | |
ausgetretenen Pfade Karrierechancen auf, etwa als Grabsteintexter. Er | |
dichtet mit Wucht und Gefühl für die Ewigkeit, zum Beispiel: „Ein treues | |
Lehrerherz und zwei nimmermüde Hände haben aufgehört zu schlagen!“ Wer | |
solches auf seinem Grabstein zu stehen hat, der ist nicht umsonst | |
gestorben! | |
An ein normalerweise noch unverstorbenes Publikum richtet sich das | |
Lesebühnenmitglied. Es liest einmal in der Woche vor einer Handvoll Leute | |
Texte über das eigene Scheitern: „Bekomme von meinen Kumpels zum Geburtstag | |
eine neue Freundin geschenkt. Anne findet das gar nicht witzig und setzt | |
mich vor die Tür …“ | |
Der Zigarettenpackungswarnhinweisverfasser muss zu gruseligen Fotos | |
mahnende Geleitworte finden, ein Balanceakt, der zwischen dem rohen | |
„Rauchen tötet!“ und dem zum Nachdenken anregenden, charmant-heiteren | |
„Rauchen vernichtet die Tabakernte!“ changiert. | |
## Einhundert Prozent Rosinen | |
Als Weinkritiker hat man es in der Hand, mit einem einzigen wohlplatzierten | |
Aperçu ganze Anbauregionen zu vernichten: „Achtzig Prozent der in der | |
Türkei/im Allgäu/in Erbssen an der Lummer geernteten Trauben enden als | |
Rosinen. Der Wunsch eines jeden Weinkenners sollte es sein, dass dieser | |
Anteil alsbald auf einhundert Prozent gesteigert werden möge!“ | |
Auch der Gesetzgeber ist im Grunde seines Herzens Wortkünstler. Schon vor | |
120 Jahren dichtete er den bis heute unerreichten § 164 Absatz 2 BGB: | |
„Tritt der Wille, in fremdem Namen zu handeln, nicht erkennbar hervor, so | |
kommt der Mangel des Willens, im eigenen Namen zu handeln, nicht in | |
Betracht.“ Ein Satz, in dem die Substantive beliebig den Platz tauschen | |
könnten, ohne dass die Verständlichkeit darunter leiden würde. | |
Ein Randberuf ist der des Abschiedsbriefverfassers. Zu Unrecht, möchte man | |
meinen, denn zahlreiche Menschen scheiden nur deshalb nicht freiwillig aus | |
dem Leben, weil sie zwar für ihren Abschiedsbrief einen guten Anfang wissen | |
(„Hi folks!“), aber nicht, wie es danach weitergehen soll. Hier | |
professionelle Hilfestellung zu geben, ist eine verantwortungsvolle | |
Tätigkeit, bei der aufgrund des engen persönlichen Kontakts zum | |
Auftraggeber möglicherweise sogar die eine oder andere, den Nobelpreis | |
entbehrlich machende Erbschaft anfällt. | |
Schließlich muss noch die Krone der Wortberufe erwähnt werden: der | |
Satire-Redakteur. Der selbstverständlich wie alle vorherigen Professionen | |
auch in der weiblichen Form und mit der Endung -in existiert. Und so | |
handelt es sich bei der Satire-Redakteurin respektive dem -Redakteur um die | |
simpelste und dabei am prächtigsten überbezahlte Tätigkeit im Bereich Wort: | |
aus den eingesandten Texten sämtliche lustigen Stellen herausstreichen, ein | |
paar Rechtschreibfehler hineinmogeln, schließlich ein kurzer Hinweis an die | |
Buchhaltung: „Halbes Honorar“ – fertig! | |
So lässt es sich leben. | |
19 May 2020 | |
## AUTOREN | |
Robert Niemann | |
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