| # taz.de -- Politik in Zeiten von Corona: Regieren nach Zahlen | |
| > Die Politik höre in der Coronakrise endlich auf die Wissenschaft, loben | |
| > Kritiker. Doch das führt zu einer Depolitisierung des politischen | |
| > Systems. | |
| Bild: Der Fußball macht es vor: Wissenschaft ist nicht alles im Kampf gegen Co… | |
| Es ist zum täglichen Ritual geworden, der Pressekonferenz des | |
| Robert-Koch-Instituts (RKI) zu folgen. „Fieberkurve der Gesellschaft“, so | |
| könnte man die [1][epidemiologischen Bulletins], die mit einem | |
| Beipackzettel möglicher Risiken dargereicht werden, überschreiben. Hatte | |
| Zahlenlehre einst den Charme eines verstaubten Hochschulseminars, ist | |
| Statistik plötzlich sexy. | |
| Jeder hat zumindest schon mal was von der Reproduktionszahl R oder der | |
| Verdoppelungsrate gehört. Endlich mal ein sachlicher Diskurs! Endlich eine | |
| emotionslose, auf Fakten gestützte Politik! Wo US-Präsident Donald Trump | |
| den Rat von Experten ignoriert und haarsträubende Therapien vorschlägt, | |
| stützt die Bundesregierung ihre Maßnahmen auf wissenschaftliche | |
| Erkenntnisse. Die Politik hört endlich auf die Wissenschaft, heißt es. | |
| Warum nicht gleich so? Das Klima wäre längst gerettet! Doch was die einen | |
| als evidenzbasierte Politik feiern, bedeutet in Wahrheit eine | |
| Entpolitisierung des politischen Systems. | |
| Gerade weil die von der Bundesregierung beschlossenen Maßnahmen – | |
| Öffnungsverbote, Kontaktbeschränkungen, Maskenpflicht – sich auf | |
| wissenschaftliche Erkenntnisse stützen, neigen sie dazu, sich gegen | |
| gesellschaftlichen Widerspruch zu immunisieren. Wer die Beschlüsse | |
| kritisiert, setzt sich dem Verdacht der Wissenschaftsfeindlichkeit aus. Mit | |
| fast schon blindem Eifer richtet die Regierung ihr politisches Handeln an | |
| epidemiologischen Kennzahlen aus. [2][Liegt die R-Zahl unter eins], stehen | |
| die Zeichen auf Lockerung. Liegt sie über eins, geht die Tendenz zum | |
| Lockdown. Regieren nach Zahlen. | |
| ## Welcher Wert ist maßgeblich? | |
| Dabei sind die epidemiologischen Modelle, auf denen die | |
| Handlungsempfehlungen der Wissenschaft beruhen, durchaus anfechtbar. Wegen | |
| der unterschiedlichen Berechnungsweisen gab es mehrfach Verwirrung um den | |
| R-Wert, von dem es nun zwei gibt. Doch welcher ist maßgeblich? Und bilden | |
| die Werte das Infektionsgeschehen korrekt ab? | |
| Die Diskussion wird weitestgehend in der scientific community geführt, | |
| einem elitären Zirkel von Wissenschaftlern, wo Einwände nur aus berufenem | |
| Munde zulässig sind. Kritik erschöpft sich in Methodenkritik. Dieser | |
| dünkelhafte Szientismus führt nicht zu einer höheren Legitimation oder | |
| besseren Qualität von Politik. Im Gegenteil: Er senkt die Legitimation, | |
| weil er die Hürden für die Beteiligung erhöht. | |
| Die Kritik an technokratischen Steuerungsformen ist nicht neu. Der | |
| Soziologe Helmut Schelsky geißelte in seinem Aufsatz „Der Mensch in der | |
| wissenschaftlichen Zivilisation“ (1961) die „Verwissenschaftlichung“ und | |
| „Technisierung“ des Gemeinwesens: „Es wird in diesen Fällen deutlich, da… | |
| heute oft nicht mehr die Politiker das Allgemeininteresse vertreten, | |
| sondern gerade die Fachleute des wissenschaftlich-technischen Staates.“ | |
| In ähnlicher Stoßrichtung schrieb Jürgen Habermas in seinem Buch „Technik | |
| und Wissenschaft als „Ideologie““ (1968): „Die heute herrschende | |
| Ersatzprogrammatik bezieht sich hingegen nur noch auf das Funktionieren | |
| eines Systems. Sie schaltet praktische Fragen aus und damit die Diskussion | |
| über die Annahme von Standards, die allein der demokratischen | |
| Willensbildung zugänglich wären. Die Lösung technischer Aufgaben ist auf | |
| öffentliche Diskussionen nicht angewiesen.“ | |
| ## Technokratie und Populismus | |
| Man braucht sich nicht zu wundern, wenn Verschwörungstheoretiker vom | |
| rechten Rand nun gegen eine vermeintliche „Gesundheitsdiktatur“ wettern und | |
| sich als Hüter der Verfassung gerieren. Auch in der Eurokrise hieß es, die | |
| Griechenland-Hilfen seien „alternativlos“. Dass dieses Rubrum heute im | |
| Parteinamen einer in Teilen rechtsextremen Partei firmiert, macht deutlich, | |
| wie das Abwürgen von Debatten zu einer Debattenunkultur verkommen kann. | |
| Der Politologe Anders Esmark hat in seinem gerade erschienenen Buch „The | |
| New Technocracy“ auf den Zusammenhang von Technokratie und Populismus | |
| hingewiesen und dargelegt, wie eine Depolitisierung zu einer | |
| Repolitisierung an den Rändern führt. | |
| Es scheint, als würden Regierungen in Zeiten von Fake News umso mehr auf | |
| wissenschaftliche Expertise rekurrieren, um ihre Politik zu beglaubigen, | |
| was jedoch genau das Gegenteil bewirkt, weil Politik mit dem Prüfsiegel der | |
| Wissenschaft zum einen den Eindruck erweckt, als sei sie nur mit | |
| wissenschaftlichen Methoden falsifizierbar, zum anderen weil die | |
| Erkenntnisse ja auch auf irgendwelchen Annahmen oder Weltbildern fußen, die | |
| als Interessen ungefiltert in das politische System einsickern. | |
| Natürlich sollte man aus diesen Überlegungen nicht den falschen Schluss | |
| ziehen, dass Politik wissenschafts- oder gar faktenfrei sein sollte. Die | |
| Wahlkampflüge „350 Millionen pro Woche für den NHS“, die der heutige | |
| britische Premierminister Boris Johnson in der Brexit-Kampagne auf seinen | |
| Bus pinseln ließ, hat auf der Insel einen nachhaltigen Flurschaden | |
| hinterlassen. Auf der anderen Seite dürfen Zahlen und Modelle aber kein | |
| Ersatz für politische Argumente sein. | |
| Es braucht gerade in der Krise das Politische, den offenen Streit, der über | |
| methodische Fragen hinausgeht; die Freiheit, jenseits wissenschaftlicher | |
| Plausibilitäten Ideen zu entwickeln. Erstaunlicherweise erleben wir bei der | |
| Diskussion über die Wiederaufnahme des [3][Spielbetriebs in der | |
| Fußball-Bundesliga] – also dort, wo es kaum belastbare Zahlengibt – die | |
| Repolitisierung eines gesellschaftlichen Subsystems. Ist man bereit, mit | |
| der Durchführung von Massentests eine Berufsgruppe zu privilegieren, die | |
| mit Spitzengehältern und medizinischer Rundumbetreuung ohnehin schon | |
| Sonderrechte genießt? Das ist keine epidemiologische, sondern eine | |
| politische Frage. Und sie zeigt auch, dass allein mit mathematischen | |
| Formeln kein Staat zu machen ist. Politik braucht die Wissenschaft. Aber | |
| Politik ist selbst keine Wissenschaft, die nach Lehrbuch funktioniert. | |
| 17 May 2020 | |
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| ## AUTOREN | |
| Adrian Lobe | |
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