# taz.de -- Ausstellung in Schaufenstern: Zeugnisse des Zeittotschlagens | |
> Das Ausstellungsprojekt Solo-Solo wuchert hinter Fensterscheiben | |
> geschlossener Lokale – und interagiert dabei mit dem Kreuzberger | |
> Stadtbild. | |
Bild: Auch das Yorck-Kino wird bei Solo-Solo zur Galerie | |
BERLIN taz | Zwei Wochen nach dem Weckruf des 1. Mai drückt Kreuzberg 36 | |
weiterhin kollektiv die Snooze-Taste. Auch wenn vereinzelt Läden, wie auf | |
der Wiener Straße, wieder „mit Abstand die besten Klamotten“ (Supermarché) | |
anbieten und sich vor den Eisdielen und den Spätis Menschentrauben bilden, | |
ist das Bild immer noch schief. | |
Schwer zu sagen, was die Gegend mehr in ihrer Identität getroffen hat: die | |
Trockenlegung von Kneipen, Kinos, Winztheatern und Bars, den Projekträumen | |
und Kollektiven, die sich auf ihre Systemirrelevanz noch etwas einbilden? | |
Oder die freie Bahn, die Polizei und Ordnungsamt in ihrem Feldzug gegen | |
Dealer und Obdachlose sichtlich genießen? Seit zwei Monaten leben sie | |
Schönbohms Traum, beherrschen den öffentlichen Raum mit Dauerkontrollen, | |
mobilen Wachen und großem Appetit auf halbe Hähnchen. | |
Auf den einst heiß umkämpften Werbeflächen in der Oranienstraße herrscht | |
Stillstand: Im März geklebte Plakate bewerben abgesagte Veranstaltungen mit | |
Suzanne Vega und Peter Wohlleben. | |
Aktueller sind die in Schaufenstern hängenden Infos zu Öffnungsstatus, | |
Sonderangeboten – im Hong Kong Shop kosten Masken 1 Euro – und | |
gegenseitiger Solidarität: Institutionen wie das Kisch & Co., das SO36 | |
und das Franken standen ja schon vorher wirtschaftlich mit dem Rücken zur | |
Wand. | |
Schaufenster als Vitrinen | |
Im Dickicht der Notbotschaften oft erst auf den zweiten Blick zu erkennen: | |
die Kunst. Während die Musikszene ihr Glück im Internet sucht, bleiben | |
Kneipen, Clubs, Bars und andere Brutstätten des Nachtlebens von Lockerungen | |
ausgenommen. So haben die Künstlerinnen Lola Göller und Johanna Landscheidt | |
geschlossene Gastwirtschaften in ein Zwischennutzungsprojekt involviert. | |
Schaufenster dienen dabei als Vitrinen der „wuchernden Ausstellung“ | |
Solo-Solo, die sich vom Neuköllner Keith durchs Kreuzköllner Kreativbiotop | |
bis zum Yorck-Kino zieht. In dessen Schaukasten sind seit vergangener Woche | |
Arbeiten von Konrad Mühe und Sonja Schrader mit dem sehnsüchtigen Titel | |
„Wonach wir suchen“ zu sehen – die jüngste von mittlerweile 18 | |
Solo-Ausstellungen; ein Dutzend weitere sind in Vorbereitung, andere werden | |
bald schon wieder verschwinden. | |
Eine Karte auf der Website [1][Solo-solo.eu] hilft bei der Orientierung und | |
Einordnung in drei Themenstränge: „Der Knacks“ verweist auf den epochalen | |
Bruch, den die Krise für Kapitalismus, Kiez und Künstler*innen bedeutet. | |
Das Thema der Isolation wird vertieft unter dem Schlagwort „#Stay@home“. | |
„Buttocks“ schließlich verweist buchstäblich auf den eigenen Arsch, auf d… | |
sich die Kreativen zurückgeworfen fühlen. | |
Entsprechend erinnern viele Werke an Internet-Memes: Fotos von sortierten | |
Erbsen, Lebensmittelinstallationen, Arrangements von Laptops und Yogamatten | |
und andere Zeugnisse des Zeittotschlagens – in der Fotostudie „Depressed | |
Animals“ vergleicht Elisa Jule Braun die Bewegungsmuster eines | |
Staubsaugerroboters und eines eingesperrten Ameisenbärs. | |
Komplexes Kreuzberger Gefüge | |
Jeschkelangers Werke im Luzia (nur noch am Donnerstag zu sehen) erzählen | |
dagegen vor allem vom Durst und so auch vom komplexen Kreuzberger Gefüge | |
aus Bierverkauf und Kunst, Individualismus und Geselligkeit, das für | |
heftigen Zuzug sorgte und damit den eigenen Untergang beschleunigte. | |
Die Abwesenheit von Touristen, Easyjet-Ravern und den Bürobelegschaften von | |
Universal, Zalando und Native Instruments wird allgemein als angenehm | |
empfunden, gleichsam wird deutlich, wie abhängig Kreuzberg von ihnen | |
geworden ist. Wenn sie wiederkommen, wird Kreuzberg ihnen ein Stück weit | |
entgegengewachsen sein. | |
Welcher dieser Orte wird überhaupt wieder in gewohnter Form öffnen können? | |
Auch danach fragen die nostalgischen Arbeiten von Joram Schön und Klara | |
Bergsteiger im Myśliwska, einst letzte Anlaufstelle für schlaflose | |
Schluckspechte am Schlesischen Tor. | |
Solo, aber solidarisch | |
Auch wenn Galerien mittlerweile eingeschränkt wieder Betrieb aufnehmen, ist | |
diese Form der Stadtausstellung, die parallel auch in Mannheim und | |
Ludwigshafen stattfindet, die richtige für diese Zeit. Sie interagiert mit | |
einem Stadtbild, das unentwegt eigene Beiträge liefert, Spiegel- und | |
Reibungsflächen. | |
Blickfang auf der Eisenbahnstraße sind weniger die Solo-Ausstellungen in | |
Vögelchen und Tante Lisbeth, sondern die Graffiti: „Klopapier/Räuber“ und | |
„Bill Gates invented Corona to Microship you“. Die Ausstellung von Kinga | |
Kiełczyńska in der Shorty36 Shooter Bar befindet sich genau neben dem | |
geschlossenen Restaurant von Verschwörungstheoretiker Attila Hildmann. | |
Gleich um die Ecke ist auch das archetypische Kiezschaufenster mit den | |
obsoleten Märzprogrammen von Wild at Heart und fsk-Kino im | |
Dornröschenschlaf, umwuchert von einer Hecke Street Art, Flyern, Graffiti, | |
Unkraut und Objektkunst, in diesem Fall: zwei ausrangierten Bürostühlen. | |
Wer außer Gerhard Seyfried könnte dieses Panorama in ein einziges Werk | |
stopfen? Auch deswegen setzt die Initiative ein Zeichen, indem sie die in | |
den Werken evidente Individualisierung und Isolation aufhebt: Zusammen solo | |
– und solidarisch. Denn die Summe allen Ungemachs, vom Überwachungsstaat | |
über Gentrifizierung bis zum blanken Wahn, ist so gigantisch, dass wird die | |
Kunst nur im Kollektiv bewältigen können. | |
14 May 2020 | |
## LINKS | |
[1] https://solo-solo.eu/ | |
## AUTOREN | |
Eric Mandel | |
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