| # taz.de -- Neues Album der Sleaford Mods: Greatest Hits der größten Wut | |
| > Das Scheppersoulpunk-Duo Sleafords Mods haut „All that Glue“ raus. Das | |
| > Doppelalbum erzählt vom Aufstieg der Band in ihren besten Songs. | |
| Bild: Jason Williamson und Andrew Fearn (v.l.n.r.) sind Sleaford Mods | |
| Jason Williamson, Sänger der [1][Sleaford Mods], sitzt auf der Rückbank | |
| eines Linienbusses, neben ihm sein Bandkollege Andrew Fearn. Er shoutet in | |
| die Kamera, erzählt von Hauseingängen, die nach Pisse stinken, von | |
| Hundescheiße am Turnschuh, billigem Frühstücksporrridge und der Langeweile | |
| mittelgroßer Industriestädte. „Tied up in Nottz“, gefangen in Nottingham, | |
| heißt dieser Song. | |
| 2014 beschrieb das Duo aus Nottingham damit eine Szenerie, die lange Zeit | |
| keine Rolle im britischen Pop spielte: die Ödnis des Arbeiterklassenalltags | |
| zwischen prekären Jobs und einem Lebensstandard, der immer weiter sank. Nur | |
| für die Sleaford Mods galt das nicht. Ab 2015 brauchten sie nicht mehr im | |
| Linienbus sitzen, fuhren im Tourvan und konnten fortan von ihrer Musik | |
| leben. | |
| 2013 trat das Duo beim belgischen Freakmusik-Treffen „Kraak“ auf. Zwei | |
| Typen auf der Bühne, beide Ende Dreißig. Einer steht hinter dem Laptop, | |
| clickt Lo-Fi-Beats an, trinkt ansonsten Bier. Der andere ergießt sich in | |
| einer Kaskade aus Schimpfwörtern und Alltagsbeobachtungen. | |
| Als die Feuilletons voll mit Fantasien über die Allmacht von Social Media | |
| waren, verbreitete sich die Nachricht von der proletarischen Wut der | |
| [2][Sleaford Mods] über Mundpropaganda – bis heute. Der Erfolg hält an: Als | |
| Corona im März zur weltweiten Pandemie wurde, befand sich das Duo erstmals | |
| auf Australientournee. | |
| ## Unveröffentlichte Tracks | |
| Nachhören lässt die Story der Sleaford Mods nun auf „All that Glue“, einer | |
| Art Best-of. 22 Stücke, darunter längst vergriffene Singles und | |
| unveröffentlichte Tracks. „All that Glue“ ist auch ein Dokument der | |
| jüngsten britischen Zeitgeschichte, die Misere der Austeritätspolitik, wie | |
| sie unter Margret Thatcher ihren Anfang nahm, erzählt an zwei ihrer | |
| außergewöhnlichsten Protagonisten. | |
| Dazu passt, dass Sänger Jason Williamson aus Thatchers Geburtsort Grantham | |
| stammt. Die Familien beider Mods sind typische Produkte des autoritären | |
| Regierungsstils der Eisernen Lady, die von 1979 bis 1990 britische | |
| Premierministerin war. Um Zustimmung für ihren autoritären Populismus samt | |
| wirtschaftlicher Deregulierung zu gewinnen, versprach die konservative | |
| Politikerin individuelle Freiheit. | |
| Die älteren Angehörigen der Arbeiterklasse köderte sie mit der Aussicht auf | |
| den Kauf der Sozialwohnungen, in denen sie lebten. Den jüngeren versprach | |
| sie ein Leben außerhalb der festgefügten Lebenswege des fordistischen | |
| Sozialstaats. | |
| ## Künstlerische Selbstverwirklichung und prekäre Zeitarbeit | |
| Die Familien von Williamson und Fearn wurden dadurch zu Hausbesitzern und | |
| Geschäftsleuten. Aber als Jason Williamson und Andrew Fearn schließlich das | |
| Versprechen auf künstlerische Selbstverwirklichung einlösen wollen, um wie | |
| die Beatles mit Popmusik der proletarischen Herkunft zu entfliehen, | |
| scheitern sie zunächst. Stattdessen erwartet sie die neue Normalität des | |
| Proletariats, an dem auch die mittlerweile ins Amt gewählte | |
| Labour-Regierung nichts ändert: prekäre Zeitarbeit. | |
| 2007 gründet Williamson die Sleaford Mods, nebenbei hat er eine Reihe von | |
| Jobs, zuletzt als Kundenberater auf dem Sozialamt. Andrew Fearn verkauft | |
| Mitgliedschaften für Fitnessstudios im Callcenter, bis er 2012 Teil der | |
| Sleaford Mods wird. | |
| In den Songs von „All that Glue“ tummeln sich all die britischen | |
| Sozialtypen der vergangenen 40 Jahre. In „Jobseeker“ schildert Williamson | |
| den demütigenden Dialog zwischen einem Arbeitsvermittler und seinem | |
| Klienten. Der Vermittler attestiert dem Erwerbslosen beste Aussichten, aber | |
| der weiß, dass dahinter nur der nächste Tagelöhner-Vertrag ohne feste | |
| Stundengarantie wartet. | |
| „TCR“ rechnet mit der Nostalgie der britischen Popkultur ab, und in „Jolly | |
| Fucker“ macht der Sänger seinem Hass auf die Heuchelei der liberalen | |
| Mittelklasse Luft, deren Werte in Selbstvermarktung, Retrochic und einer | |
| Liebe zu überteuertem Kaffee gemündet sind, während sich die Arbeiterklasse | |
| der rechtsextremen Schlägertruppe English Defence League und der | |
| Populistenpartei UKIP zuwendet. | |
| ## Sprecher der Vergessenen | |
| Williamson ist so zum Sprecher der Vergessenen stilisiert worden: ein | |
| Medium, durch das die aufgestaute Wut von Working Class Britain ihren | |
| unmittelbaren Ausdruck findet. In Interviews wird er über seine Meinung zum | |
| Kapitalismus gefragt, als Antwort überzieht er die jeweiligen | |
| Regierungschefs mit Schimpfkanonaden, egal, ob gerade David Cameron, | |
| Theresa May oder Boris Johnson regiert. | |
| Es ist die Inszenierung eines politischen Konflikts, der sich nicht | |
| aufheben lässt, weil beiden Seiten eine feste Rolle zufällt: der zynischen | |
| Politik der konservativen Regierungen steht die blinde Wut derjenigen | |
| gegenüber, die von ihren Maßnahmen betroffen sind. | |
| Aber die Klassenlage ist auch bei den Sleaford Mods eine vermittelte: Die | |
| Band produziert Kunst, keine Sozialreportagen. Den Hinweis darauf geben sie | |
| schon im Bandnamen. In Sleaford, einer Kleinstadt in der Nähe von | |
| Nottingham, lernte Sänger Jason Williamson die ersten Mods kennen, | |
| Angehörige einer Subkultur, mit der er sich noch heute, mit 49 Jahren, | |
| identifiziert. | |
| Die Ur-Mods der 50er und 60er Jahre waren Fans afroamerikanischer Popmusik, | |
| die mit dem Stil von Filmgangstern ihren sozialen Aufstieg ironisierten. | |
| Auch für Williamson ist Schwarze Popmusik die wichtigste | |
| Inspirationsquelle. Zu seinen Lieblingsalben gehören neben dem Frühwerk des | |
| Wu-Tang-Clans eine Reihe von obskuren Grime-Mixtapes aus den Nullerjahren. | |
| ## Schnatterige Nachbarn und „Chelsea Tractors“ | |
| In einem Akt hybrider Aneignung übersetzt er ihren Stil auf die Erfahrungen | |
| einer weißen Arbeiterklasse. Sein rhythmischer Gesang ist durchsetzt vom | |
| Dialekt der East Midlands. Auf „O.B.C.T.“ („Obesity“, Fettleibigkeit) | |
| schildert er den eigenen sozialen Aufstieg in einen netten Vorort. Dort | |
| macht er sich über die schnatterigen Nachbarn in ihren SUVs, den „Chelsea | |
| Tractors“, lustig. | |
| Auf „When you come up to me“ lässt er schließlich seiner Liebe zum Soul | |
| freien Lauf und besingt eine klassische Figur des afrodiasporischen | |
| Popkanons: den Drogendealer vor Ort. In der Welt von Andrew Williamson ist | |
| er kein Bling-Bling-Blender, sondern erleidet einen epileptischen Anfall an | |
| der Haustür seiner Kunden, denen er vor allem peinlich ist. | |
| Schließlich kommen die Sleaford Mods aus Nottingham. Und nicht aus New | |
| York. | |
| 16 May 2020 | |
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| ## AUTOREN | |
| Christian Werthschulte | |
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