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# taz.de -- Rückkehr des Autokinos wegen Corona: Sicher auf dem eigenen Sitz
> Trotz Corona-Lockdown dürfen Autokinos ihren Betrieb fortführen. Den
> alten geht es seither prächtig, neue werden gegründet.
Bild: 19.04.2020, Dortmund: Autokino vor ehemaligem Hochofen
Ein Revival wie eine Auferstehung. In einer seltsamen Zeit. Keine
Isolierung ist so sicher und dabei ortsungebunden wie das Auto. Und
Autokinos [1][werben seit Jahrzehnten mit vergleichbar raren Argumenten]:
Jedem seinen Lautsprecher, individuell zu justieren; geeignet für alle und
speziell Familien. Kinder können mitkommen, zetern oder schlafen.
Kränkelnde Babys, die während der Polio-Epidemie in Kalifornien zu Hause
bleiben mussten, durften ins Auto, also auch ins Autokino. Öffentlich im
privaten Raum, in den eigenen Mobilien, für Menschen jedweder Couleur:
„sicher und hygienisch“.
Architektonisch weniger ambitioniert als Parkhäuser, stehen Autokinos
[2][für den American Way of Drive]. Allerdings kamen sie nicht in den
vertikalen Stätten des Immer-mehr auf die Welt, auch nicht beim Dinner in
Hollywood. Sie liegen an den Rändern, noch vor den Vororten, fast an der
Prärie, wo Cowboys und Indianern ihre Geschichte geskriptet wurde. Verklärt
von Nostalgie (klingt das nicht wie eine Krankheit, eine ansteckende?),
werden Autokinos von Cineasten immer schon beäugt wie der entfernte
Verwandte oder Dorfdepp, den jeder meidet.
Im Gegensatz zu den Filmpalästen der Metropolen war an
Drive-in-Freilichtkinos zu viel zu vulgär. Das erste eröffnete 1933 im
Sommer, fünfzehn Autominuten vom Zentrum Philadelphias entfernt. Heißt
es. Wird ständig wiederholt. Dabei gab es zu Stummfilmzeiten in Mexiko und
anderswo Vergleichbares. 1933 in New Jersey jedoch mit präzisierten
Methoden (US-Patent 1.909.537). Zu dem Erfinder, zur Größe der Leinwand,
zum Projektor und mehr ist online viel zu lesen, selten fällt dagegen der
schnöde Name seines Unternehmens: Automobile Movie Theatre. Also ganz
ohne die Simulation humanistischer Bildung, ohne das Flair von Filmtempeln
wie Apollo, Delphi, Odeon...
In Fahrt geriet das Autokino synchron zu großen Umwälzungen Ende der 1940er
Jahre. Die private Mobilisierung kam aus der Talsohle, die alten Formeln
Hollywoods griffen immer weniger, schon gar nicht für die heimkehrenden
Soldaten. Statt die Fiktion eines gebildeten, weißen Publikums zu
bestätigen, konsumierten und lebten Teenager und Millionen Haushalte
inzwischen anders. Heroische Halbstarke genauso wie Nuklearfamilien in den
suburbs wussten noch nicht, was sie tun, da staunten sie in den eigenen
vier Wänden plus Garten beim Barbecue über die Isolation inmitten der
uniformierten Vorstadthölle voller Gleichgesinnter. Krieg gewonnen,
Existenz gesichert, aber weit und breit kein Exit. Hier griffen die
Versprechen der Vorkriegsidee: „Gäste können mit ihren Automobilen in das
Theater gelangen und den Vorführungen beiwohnen, ohne den Wagen zu
verlassen. Dank der geneigten Plattformen können auch die im Wagenfond
befindlichen Personen den Vorgängen auf der Leinwand folgen“, berichtete
ADAC Motorwelt bereits 1933 (das Verbot, über Entwicklungen anderer
Nationen zu berichten, kam erst später, ebenso Frakturschrift).
## Vollbedienung bis zur Tür
Der Clou der neuen Kinos war ganz auf der Linie des „Gesamtkunstwerks der
Effekte“ in Berliner Lichtspielhäusern der 1920er Jahre, wie sie Siegfried
Kracauer in „Kult der Zerstreuung“ umkreiste. Für die Aufenthaltsorte vorm
Vorort musste sich das Familienoberhaupt nicht nach der Arbeit umziehen,
das Geld für Babysitter gab man an der Kasse ab, und die Kids tobten auf
Spielplätzen, in Pools oder ritten auf echten Ponys (besser als
Karussell!). Dazu Vollbedienung bis zur Tür, Scheibe runter, Lautsprecher
drangehakt, später Radio auf gesonderter UKW-Frequenz, noch später mit
Dolby, bald sicher Bluetooth. Und das mitten in der Natur, „Romantik
vollmotorisiert“ (Spiegel, 1954). Im rollenden Automobil – my car is my
castle – konnte man essen, rauchen, reden, stillen, noch mehr essen, Füße
aufs Armaturenbrett... und wegnicken, ohne dass das Tuscheln in der
nächsten Reihe das Schnarchen aus dem Takt brachte.
Für die Variante in der BRD – 1960 mit deutlich weniger Kfz besiedelt –
wurde das Konzept angeglichen. Zusätzlich sollten Zweiradfahrer, selbst
unmotorisierte, auf ihre Kosten kommen, Fußgänger zum halben Preis eines
Pkw – für 1 DM. Original aber Kino mit Popcorn und Pommes, ungewöhnlich
auch die „Rauchen erlaubt“-Hinweisschilder. Ketchup dazu oder Mayo?
Praktisch jedem Filmmogul in Hollywood war der Boom abseits des von
Studios kontrollierten Systems zuwider. Ihre Vertriebe gaben keine neuen
Produktionen an die Drive-in-Betreiber. Der Vaudeville-Familienzirkus mit
Double Features aus abgelutschten Schinken wurde systematisch
diskreditiert, und zwar bereits 1947 mit einem Plot wie aus einem
Filmtheater, ersonnen in der vorletzten Reihe: Das seien gar keine Kinos,
sondern lizensierte petting places, ätzte Variety. Das Branchenblatt legte
zwei Jahre später nach: „Negroes flock to the open air theatres.“ Das ließ
sich in der Tat beobachten, selbst in den Südstaaten, wo die Rassentrennung
an öffentlichen Orten noch strikt vorgeschrieben war. Familienväter mit
oder ohne Blaumann, Frauen und Kinder reisten ungebremst wie in „Grease“ zu
den passion pits nicht für den Film oder zum Petting, sondern um die Wäsche
machen zu lassen, die fürs Auto separat... und um am Imbiss dann noch mit
sogenannten colored people anzustehen. Horror, oh Horror.
Zwar war klar, the revolution will not be televised. Wie jedoch jüngst
Prof. Gretchen Sorin dokumentierte, fand die Befreiung von Afroamerikanern
nicht in Omnibussen statt, sondern mit Individualverkehr. „Das Auto formte
den Gedanken eines demokratischen Menschseins“, [3][heißt es in Sorins Buch
„Driving While Black“. „Es wurde zum Symbol amerikanischer Freiheit.]“
## Ort der Emanzipation
Auch für Minderheiten in unseren Breiten, anhaltend: Besser als zu Hause
ein Renoir oder ein Armstuhl von Starck demonstriert ein Pkw vor der Tür
sozialen Aufstieg, Geschmack, Ästhetik (relativ, klar). Die Eigenart,
selbstbestimmt Ort und Zeit zu überwinden, ging einher mit der
Emanzipation. In den 1920er Jahren für die, die es sich leisten konnten,
später selbst für Azubis, die frei entscheiden konnten, wann sie ein
Rendezvous oder Konventionen im elterlichem Heim hinter sich ließen. Ohne
Rücksicht auf Fahrpläne und Linien.
Großes Kino oder Revolution: Was, wenn die Frauen plötzlich ihren eigenen
Kopf haben, die Schwarzen nicht mehr auf der Farm bleiben, wenn die einen
wie die anderen vielleicht noch wählen gehen, studieren, so mobilisiert und
wie auf Speed in Männerdomänen eindringen? Auch hier ist ein Paradox
serienmäßig eingebaut: Man fühlt sich bei der autonomen Bewegung sicher,
die Kinder abgeschirmt von öffentlichen Anfeindungen oder Grabschern,
zumindest vorübergehend, im Verkehr, der hier Leben kosten kann, der aber
nicht so kontrollierbar ist, wie es einen die Hersteller glauben lassen.
Und dann noch zu einem Preis, den man nicht sieht.
Abspann: Der Boom der Autokinos zwang Filmvertriebe zum Umdenken, außerdem
war nicht nur gesellschaftlich und auf Highways viel los, das Fernsehen
schlich in die Wohnstuben, Exploitationfilme drängten in die aggressiver um
Kunden buhlenden Kinos. Wer jung war und fummeln wollte, ging ins Kino.
Wer ein Auto hatte, dem oder der passten die Drive-in-Regeln für sittsames
Verhalten dagegen eher nicht: „Wenn ein Mann“, so ein Hinweis 1951 in
Memphis, „seinen Arm um ein Mädchen legt, ist das in Ordnung. Aber wenn sie
ihren Arm auch um ihn legt und es zu einer Umarmung kommt – das geht
nicht.“
Wäre ja auch zu schön. Da sitzen Hinz und Kunz mit lauter Gleichgesinnten
im Auto im Kino, zugleich von allen sozial distanziert wie auf dem Rang
oder Balkon eines Theaters, total privat, vorne die Leinwand, dazu Root
Beer, vielleicht im Kofferraum ein paar blinde Passagiere reingeschmuggelt,
und jetzt soll man sich aufführen wie in der Kirche? Jeder für sich in
einer sicheren Kapsel, inmitten von Tausenden.
## Und dann noch Tarantino
In Deutschland, selbst im ehemaligen amerikanischen Sektor, [4][blieb das
Phänomen der suburbs immer marginal.] In den USA rollte die Attraktion
bereits aus, als bei Frankfurt das erste Autokino der BRD eröffnet wurde.
Homevideo, Fernsehen, dann auch noch in Farbe, verkabelt, gaben vielen
Autokinos den letzten Stoß.
Leben und Konsum änderten sich weiter, man besuchte dieselben Orte, die
Parkplätze waren ähnlich, die Leinwand aber ersetzt durch eine
Shoppingmall. Mit Multiplex, kleiner, die Sessel von tausend vorigen
Besuchern eingesessen. Schon Ende der Sixties war der Drive hin, in
Tarantinos letztem Streifen ist es zu sehen, als Brad Pitt zu seiner Bleibe
kurvt, vorbei an der Rückseite einer Leinwand im Brachland, vor der nur
Vereinzelte parken.
Beim „ersten“ Autokino, dem vor den Toren von Philadelphia, wurde lange
vorher das Licht ausgeknipst. Sein Erfinder verkaufte nach drei Jahren.
Beim Benennen von Autokinos hielt man sich an seine Formel.
23 Apr 2020
## LINKS
[1] /Autokinos/!5060783/
[2] /!435126/
[3] https://www.youtube.com/watch?v=p06eI4TDo3I
[4] /!766864/
## AUTOREN
Matthias Penzel
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