# taz.de -- Henning Venske über den Blick auf Politik: „Mauern sind zum Einr… | |
> Henning Venske ist streitbarer Kabarettist im Ruhestand. Ein Gespräch | |
> über Ausnahmezustände, die Grenzen des politischen Humors und Zuhause. | |
Bild: Im Ruhestand: der vielfach ausgezeichneter Künstler und Satiriker Hennin… | |
taz: Herr Venske, als 1939er-Jahrgang haben Sie vom Zweiten Weltkrieg über | |
Kuba-Krise, 68er-Revolte, Deutschen Herbst, Tschernobyl oder 9/11 bis hin | |
zum Bankencrash 2007 schon so manchen Ausnahmezustand mitgemacht. | |
Henning Venske: Oh ja. | |
Ist dieser Ausnahmezustand im Zuge der [1][Coronapandemie], den wir alle | |
grad durchmachen, da überhaupt was Besonderes für Sie? | |
Wissen Sie, ich lebe sehr zurückgezogen hier in Hamburg und mein Leben ist | |
genauso eingeschränkt wie das anderer Leute auch. Für einen 81-Jährigen ist | |
dieser Ausnahmezustand aber natürlich insofern außergewöhnlich, als ich mit | |
den Vorbelastungen COPD, Emphysem und Asthma gerade in absoluter Isolation | |
zu allen anderen außer meiner Frau lebe. Mir fehlt nicht nur, aus- oder ins | |
Theater zu gehen. Ich traue mich ja nicht mal einzukaufen. | |
Und was macht die Krise mit den Menschen, der Gesellschaft? | |
Sie löst sowohl Hysterie und Selbstmitleid als auch Fantasie und | |
Hilfsbereitschaft aus. Umso abstoßender finde ich, wie andere Katastrophen | |
jetzt übergangen oder vergessen werden: Der [2][Ausnahmezustand in Syrien] | |
und Afghanistan, die Ertrinkenden auf dem Mittelmeer und das [3][Elend in | |
den Flüchtlingslagern], die Not der Kurden oder der [4][Obdachlosen bei | |
uns] – für viele ist das alles nicht so wichtig wie genügend Klopapier. | |
Aber gemessen daran, was Sie vorhin aufgezählt haben, ist Corona dennoch | |
nur ein drittklassiger Ausnahmezustand. | |
Warum? | |
Lesen Sie bitte die ersten 40 Seiten meiner Autobiografie „Es war mir ein | |
Vergnügen“. Da steht, welcher Ausnahmezustand mich geprägt hat, nämlich | |
zunächst das letzte Jahr des Zweiten Weltkriegs, mein Fußmarsch vom | |
Wolfgangsee in Österreich durch ein zertrümmertes Land bis nach Kiel, | |
Sommer 1945, mehr als 1.000 Kilometer. Dass Donald Trump und Emmanuel | |
Macron im Kampf gegen Corona nun dauernd von „Krieg“ reden, zeigt doch nur, | |
dass beide nie einen erduldet haben und Verwandte aus Trümmern buddeln | |
mussten. | |
Macht dieser Erfahrungsschatz im Umgang mit weniger dramatischen | |
Ausnahmezuständen da gelassener, womöglich gar angstfrei? | |
Männer in meinem Alter haben in der Regel keine Angst mehr, zumindest nicht | |
ums eigene Leben – deshalb sind sie ja so gefährlich für andere (lacht). | |
Gibt es selbst bei Ihnen also etwas wie Alterskonservatismus? | |
Nicht, wenn er bedeutet, zu glauben, früher sei alles besser gewesen. Dafür | |
treffe ich in meiner Seniorenwohnanlage in Hamburg-Bramfeld zu viele | |
Menschen meines Alters, die sehr aufgeschlossen, sehr freundlich, sehr | |
selbstkritisch, sehr witzig sind. Da tut es mir gerade in dieser Krise | |
leid, wenn sie einerseits den Vorurteilen junger Leute ausgesetzt sind, | |
rückständig zu sein, andererseits nur als Wirtschaftsfaktor gelten, deren | |
Schutz die Jüngeren gerade noch mehr Geld und Freiheit kostet. Die | |
Lebenswelten der Generationen sind da schon sehr getrennt. | |
Wobei Sie durch Ihre zwei Enkelinnen auch den Blick auf Jüngere haben. | |
Und schon deshalb bereitet mir deren Zukunft auch angesichts des | |
Klimawandels Sorge. Aber es gab schon früher Endzeitstimmungen. Als Helmut | |
Schmidt noch Kanzler war, kursierte der Witz, eine Langspielplatte brauchst | |
du nicht aufzulegen, die schafft’s eh nicht bis zum Ende … | |
Hat es Ihnen im Laufe Ihres Lebens als Satiriker geholfen, selbst größeren | |
Katastrophen mit Humor zu begegnen? | |
Ach, so viel Humor habe ich persönlich gar nicht (lacht). Privat neige ich | |
selten dazu, die Realität zu überzeichnen oder wegzulachen, aber beruflich | |
sorgt diese Fähigkeit dafür, gleichzeitig Distanz und Nähe zu erzeugen. Im | |
Schopenhauerschen Sinne sitzen Satiriker wie Fools on the hill aufm Hügel, | |
gucken sich die Welt darunter an und geben ihren Senf dazu. | |
Um den Menschen auch Coronakrisen, wenn schon nicht erträglich, so doch | |
verständlich zu machen, oder? | |
Mag sein, aber das entspringt nicht unbedingt dem Frohsinn des Satirikers. | |
Grundlage des politischen Humors ist es ja, die Realität nicht auf die | |
leichte Schulter, sondern besonders ernst zu nehmen. Sonst ist es weder | |
witzig noch relevant. | |
Gibt es dabei Grenzen, die der Humor nicht übertreten sollte? | |
Nein, jeder Satiriker bestimmt die Grenzen seines Humors selbst, daran | |
ändert sich auch in Ausnahmesituationen nichts. Aber wissen Sie, was das | |
wichtigste Motiv des Kabarettisten ist? | |
Sagen Sie es mir! | |
Mitleid. Mitleid mit den Zukurzgekommenen, Unterdrückten, den Ausgebeuteten | |
bei gleichzeitiger Abneigung gegen jene, die dafür verantwortlich sind. Die | |
Analyse der näheren Umstände macht politischen Humor – zumindest in meinem | |
Fall – zu harter Arbeit. | |
Ist der private Henning Venske demnach ein anderer als jener auf der Bühne? | |
Im Gegenteil: Obwohl ich gelernter Schauspieler bin, bin ich in keinem | |
meiner Solokabarettprogramme in eine Rolle geschlüpft, habe mir nie einen | |
Lederhandschuh angezogen und statt meiner eigenen die Gedanken die eines | |
kriegsversehrten Sozialdemokraten geäußert. Ich wollte mich nie verstecken, | |
ich war immer nur ein bekennender Oppositioneller. | |
Aber was macht es mit einem Kabarettisten links der Mitte, wenn er wie Sie | |
sechs Jahrzehnte lang gegen ein System opponiert, in dem am Ende doch immer | |
Konservative, das Kapital, mittlerweile ja sogar wieder Rechtsradikale den | |
Ton angeben? | |
Das macht mit ihm, dass er allmählich die Lust verliert; irgendwann ist ja | |
auch alles gesagt. Die Themen, mit denen sich Satire auseinandersetzt, sind | |
seit Aristophanes schließlich immer dieselben. Es geht um Krieg und | |
Frieden, Arm und Reich, Macht und Ohnmacht, Moral und Religion, Ausländer | |
und Korruption. Das einzig neue Thema seit 2.500 Jahren ist die Atomenergie | |
– weil sie der Menschheit die Möglichkeit gibt, sich selbst auszurotten. | |
Alles andere wiederholt sich. Ob ich über Seehofer rede oder Herrn Seebohm | |
… | |
Seebohm? | |
Können Sie vielleicht nicht wissen … Der war in den Fünfzigern | |
Verkehrsminister, Heimatvertriebenenfunktionär und aus meiner Sicht ein | |
rechtsradikales Arschloch. Den habe ich damals ähnlich gesehen wie heute | |
Herrn Seehofer. Wenn mir also gesagt wird, wie viel Stoff die Politik dem | |
Kabarett gerade zur Verfügung stellt, entgegne ich, dass die Politik | |
allenfalls austauschbare Charaktermasken liefert. | |
Sind Sie dennoch gerne Ihr ganzes Leben gegen diese Mauern gerannt? | |
Mittlerweile möchte ich zwar lieber mit meiner Frau irgendwohin reisen, als | |
irgendwo gegen zu laufen. Nach 60 Jahren im Geschäft darf ich mir | |
vermutlich erlauben, diesbezüglich ein wenig müde zu sein. Aber Mauern sind | |
zum Einreißen da und so lange, wie ich das durchgehalten habe, habe ich es | |
ja vermutlich gerne getan. | |
Hatten Sie als Kabarettist und Mensch den Einfluss, gesellschaftliche | |
Realitäten wirklich verändern zu können? | |
Punktuell, ja. Inwieweit ich dazu einen Beitrag geleistet habe, müssen | |
andere beurteilen, aber ich fühle mich sozialen Bewegungen zugehörig, die | |
immer wieder für positive Veränderung gesorgt haben – sei es bei der | |
Emanzipation, die längst nicht an ihr Ende gekommen ist, aber einen Grad | |
erreicht hat, von dem die Frauen in meiner Jugend nicht mal zu träumen | |
gewagt hätten; sei es im Schulwesen, das zu meiner Zeit noch von Lehrern | |
aus der wilhelminischen Zeit geprägt war. Kinder werden heute mit größerem | |
Respekt behandelt als Anfang der Sechziger. Es ist ein gutes Gefühl, an | |
dieser Entwicklung einen Anteil gehabt zu haben. | |
Waren Sie als Vater in den Sechzigern denn noch wilhelminisch geprägt oder | |
bereits antiautoritär? | |
Ich war mit großer Begeisterung antiautoritär – inklusive aller Fehler, die | |
da gemacht werden konnten. | |
Bei all den politischen und sozialen Katastrophen Ihrer langen Karriere war | |
eine der größten privater Natur, als Anfang des neuen Jahrhunderts Ihre | |
Zwillingskinder im Abstand weniger Jahre mit Mitte 40 gestorben sind. Wie | |
sind Sie damit umgegangen? | |
Damit kann man nicht umgehen, Trauer lässt sich nicht manipulieren. Ich | |
reagierte mit einer Art Eskapismus und flüchtete mich in die Arbeit oder | |
besser: versuchte es. Wenn das gesamte Leben plötzlich aus Trauer besteht, | |
ist es eine Illusion anzunehmen, für solche Schicksalsschläge gäbe es | |
Instrumente, die man einfach zur Anwendung bringen könnte. | |
Konnten Sie sich keine aus ihrer künstlerischen Arbeit zunutze machen, die | |
den Irrsinn der Realität ja auch irgendwie leichter erträglich machen? | |
Hui (überlegt lange). Ich glaube nicht. Wenn bei einem Erdbeben Tausende | |
ums Leben kommen, ist das entsetzlich, aber das Mitgefühl, das man bei | |
einer dieser relativ regelmäßig stattfindenden Katastrophen empfindet, ist | |
etwas ganz anderes als die Trauer beim Tod des eigenen Kindes. Das kann man | |
nicht vergleichen. Und in der Realität von Corona sieht es noch anders aus: | |
Hunderttausende Tote machen Angst, aber Mitleid wird vor allem gefordert | |
und praktiziert für die sogenannte Wirtschaft. | |
Ist man mit Anfang 80 und der Gewissheit, nicht mehr ewig zu leben, | |
manchmal sogar froh, das ganze Elend bald hinter sich zu haben? | |
(lacht) Das frage ich mich auch oft, wenn ich von meinem Hügel aus ins Tal | |
blicke. Am Ende bin ich froh, nicht noch mal die Pubertät durchmachen zu | |
müssen und alle anderen Probleme junger Menschen. Aber wenn man mir anböte, | |
nochmals 50 Jahre jünger zu sein, würde ich schon deshalb nicht nein sagen, | |
um mal wieder schmerzfrei spazieren gehen zu können. Mit dem Elend der Welt | |
dagegen beschäftige ich mich eigentlich nur dann noch intensiver, wenn mich | |
die taz zum Gespräch darüber bittet. Ich gönne mir mittlerweile ein | |
bisschen Gleichgültigkeit und bleibe zu Hause. | |
Wie lange ist dieses Zuhause eigentlich schon Hamburg? | |
Seit 1966. Ich war zwar zwischendurch acht Jahre in München, hatte aber | |
immer mein Haus hier. | |
Macht es die Stadt da zu so etwas wie Heimat für Sie? | |
Ich habe ein etwas gestörtes Verhältnis zum Begriff Heimat, ich nenne es | |
lieber: zu Hause. Den Kellner bei meinem Stamm-Italiener in Hamburg habe | |
ich jahrelang auch für einen Italiener gehalten, bis er mir beim Schnacken | |
mal sagte, er sei Pole und stamme aus Stettin, wo ich geboren wurde. Obwohl | |
ich den kleinsten Teil meines Lebens dort verbracht habe, war auch das | |
plötzlich ein Stück zu Hause. Dasselbe Gefühl verbindet mich mit Minden in | |
Westfalen, wo ich acht Jahre zur Schule gegangen bin, und wo ich noch immer | |
viele Menschen kenne, und auch München ist ein klein bisschen zu Hause. Ich | |
habe das Glück, mich vielerorts zu Hause zu fühlen. | |
21 Apr 2020 | |
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Jan Freitag | |
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