# taz.de -- Präsident des Lehrerverbands über Krise: „Ich verstehe die Emp�… | |
> Der Präsident des Lehrerverbands Heinz-Peter Meidinger verteidigt das | |
> freiwillige Sitzenbleiben. Er regt an, Schulen für Benachteiligte eher zu | |
> öffnen. | |
Bild: Der Schwamm bleibt trocken – Für Förderschüler_innen ist das besonde… | |
taz: Herr Meidinger, Ihre Forderung, schlechte SchülerInnen sollten | |
freiwillig sitzen bleiben, hat Empörung hervorgerufen. Wollen Sie wirklich | |
die SchülerInnen dafür bestrafen, dass derzeit kein Unterricht stattfindet? | |
Heinz-Peter Meidinger: Diese Empörung verstehe ich nicht ganz. Ich bin ja | |
durchaus in dieser Ausnahmesituation für großzügige Versetzungsregeln, | |
Niedersachsen etwa verzichtet in diesem Schuljahr auf das Sitzenbleiben | |
ganz. Mein Vorschlag war nicht, diese zu canceln, sondern nur sehr bewusst | |
davon Gebrauch zu machen. Ich rate Schülern dazu, freiwillig zu | |
wiederholen, insbesondere wenn im ersten Halbjahr viele Leistungen | |
ungenügend oder mangelhaft waren. Das ist eine Chance, Lücken zu schließen. | |
Wirklich? Sitzenbleiben bringt schon unter normalen Bedingungen wenig. | |
Das stimmt nicht ganz. Ein Drittel der SchülerInnen profitiert von dem | |
zusätzlichen Jahr. An diese richtet sich mein Appell. | |
Das heißt zwei Drittel profitieren nicht. Sollten nicht alle Länder dem | |
Vorbild Niedersachsens folgen? | |
So pauschal würde ich das nicht sagen. In Niedersachsen ist die Regelung | |
sinnvoll, weil die Sommerferien früh beginnen und den Schüler durch | |
[1][Corona] die Chance genommen wurde, sich noch in Tests und Klausuren zu | |
verbessern. Da kann man ja nicht sagen, blöd gelaufen, bleibst halt sitzen. | |
In Bayern beginnen die Ferien aber erst im August. | |
Die GEW hat vorgeschlagen, derzeit ganz auf Noten und Prüfungen zu | |
verzichten. Unterstützen Sie das? | |
Das ist in den meisten Bundesländern beim Homeschooling sowieso der Fall. | |
Wir in Bayern haben klar gesagt, während der Zeit des Homeschoolings finden | |
keine Prüfung statt und es werden keine Noten vergeben. Auch weil die | |
Bedingungen zu Hause so unterschiedlich sind. Überhaupt hilft uns derzeit | |
das Starren auf Vorschriften auch nicht viel weiter. | |
Was meinen Sie? | |
Wir stellen fest, dass an vielen Schulen die eigentlich von uns bei der | |
[2][Lehrer-Schüler-Kommunikation geächtete WhatsApp] neue Urstände feiert. | |
Denn das ist das Medium, bei dem man am ehesten die ganze Klasse | |
beieinander hat. Da muss man abwägen: Wenn es funktioniert, sollte man ein | |
Auge zudrücken. | |
Gilt das auch für die Abschlussprüfungen, die ja in 14 Bundesländern noch | |
stattfinden sollen. Sollte es einen Corona-Bonus geben? | |
Warten wir doch mal ab, wie die Ergebnisse ausfallen. In Rheinland-Pfalz | |
und Hessen sind die Prüfungen schon fast durch. Wenn jetzt Bundesländer | |
doch darauf verzichten, bekommen wir ein massives Gerechtigkeitsproblem | |
zwischen Schulen mit und ohne Prüfungen. Denn eine Abiprüfung führt in der | |
Regel dazu, dass die Vornoten um zwei Zehntel absinken. | |
Auf Prüfungen zu verzichten wäre ungerecht, weil die SchülerInnen zu gut | |
abschneiden? | |
Der Verzicht führt zu weniger Vergleichbarkeit und mehr Ungerechtigkeit, | |
denn diese Corona-Jahrgänge hätten zum Beispiel bessere Chancen bei der | |
Vergabe gefragter Studiengängen, als jene aus früheren Jahrgängen, die sich | |
jetzt ebenfalls bewerben. | |
Ist das Gerechtigkeitsproblem nicht ein anderes: Mehr denn je entscheidet | |
das häusliche Umfeld darüber, wie gut man lernen kann. Nämlich, ob es Wlan | |
gibt, Computer und Eltern, die zur Seite stehen? | |
Das kommt dazu. Aber soll man deshalb grundsätzlich auf Noten und Prüfungen | |
verzichten, weil wir keine totale Gerechtigkeit herstellen können. | |
Ja. | |
Die Alternative wären dann Hochschuleingangsprüfungen. Die benachteiligen | |
gerade Kinder aus benachteiligten Familien noch stärker. Aber klar, es gibt | |
ein Gerechtigkeitsproblem. Die Schere geht gerade noch stärker auseinander. | |
Woran merken Sie das? | |
An meiner Schule arbeiten die Lehrkräfte fast durchgehend mit | |
Videokonferenzen. Pro Klasse sind immer zwei, drei Schüler nicht dabei. Wir | |
versuchen dann, per Email und Telefon Kontakt zu ihnen aufzunehmen. Aber | |
wir als Gymnasium haben da ein Luxusproblem. Die Förderschule bei mir um | |
die Ecke hat das Grundproblem, die Schüler überhaupt zu erreichen. Es tut | |
mir in der Seele weh, dass der Sprachförderunterricht, der auf intensivem | |
Kontakt zwischen Lehrkraft und Schüler beruht, gerade völlig flachliegt. | |
Das sind drei Wochen schon schlimm, wenn es noch länger dauert, wird es | |
noch schlimmer. Da müssen wir uns tatsächlich fragen, wie kriegen wir es | |
gebacken. | |
Was schlagen Sie vor? | |
Da habe ich jetzt auch keine Musterlösung. Es gibt Pläne, diese Schüler | |
vielleicht doch in kleinen Gruppen in die Schule zu holen oder für sie die | |
Ferien zu verkürzen. | |
Sie haben eine graduelle Öffnung der Schulen nach Ostern vorgeschlagen. | |
Gerade auch für benachteiligte SchülerInnen? | |
Da spräche einiges dafür. Ich war einer von denen, die dafür plädiert | |
haben, die Notfallbetreuung großzügiger zu fassen. Ich fürchte aber, diese | |
Benachteiligung wird uns auch nach Öffnung der Schulen noch lange | |
beschäftigen. Wir dürfen das nicht aus den Augen verlieren. | |
7 Apr 2020 | |
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## AUTOREN | |
Anna Lehmann | |
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