| # taz.de -- Science-Fiction im Hörspiel: Der aus der Kälte kam | |
| > Der WDR präsentiert mit „Die Van Berg-Konstante“ ein spannendes Hörspie… | |
| > Wissensvermittlung und Zivilisationskritik fließen ineinander. | |
| Bild: Die Freiheit der Fiktion legt an diese Stelle einen schockgefrorenen Fors… | |
| Im [1][Hörspiel] gilt die Faustregel, dass die ersten drei Minuten | |
| bestimmen, ob eine Hörerin dranbleibt oder nicht. Kuriose Folge dieser | |
| Regel ist eine Tendenz zu Hörstücken mit superinteressantem Anfang, der | |
| bald nach der genannten kritischen Zeitspanne zu einer trockenen Tonspur | |
| mutiert, zu einer Art Theater ohne Bild. Im Dreiteiler „Die Van | |
| Berg-Konstante“ des Berliner AutorInnenduos Serotonin (Marie-Luise Goerke | |
| und Matthias Pusch) ist es aber so: Die ersten drei Minuten sind aufregend. | |
| Die letzten drei sind großartig. Und dazwischen entfaltet sich eine | |
| atemberaubend experimentelle, akustisch prickelnde | |
| Science-Fiction-Infotainment-Hörwelt, deren Aussage, Idee und Einsicht im | |
| Ton des witzigen Understatements vermittelt wird und doch keinen Moment an | |
| Dringlichkeit verliert. | |
| Ort der Handlung ist Spitzbergen. Die Zeit: heute. Die Situation: Zwei | |
| WissenschaftlerInnen stoßen im ewigen Eis auf den Körper eines Forschers, | |
| der im ausgehenden 19. Jahrhundert beim Absturz mit dem Heißluftballon über | |
| dem Adventsfjordgletscher durch einen physikalischen Zufall schockgefroren | |
| wurde. Die verblüfften Finder graben ihn aus, lassen ihn – weil Feierabend | |
| ist und hier am Ende der bewohnbaren Welt ja sowieso nichts anbrennt – in | |
| der improvisierten Leichenhalle liegen. Versehentlich bleibt die Wärmelampe | |
| angeschaltet: „Und so erwacht Van Berg in seiner fernen Zukunft. Der Kaiser | |
| ist schon lange tot – die Follower sind an seine Stelle getreten“. | |
| Er tritt hinaus in die arktische Nacht. In den drei Hörspielfolgen, die | |
| sich nun entfalten, erleben wir hautnah, wie dieser „Frost Man“ zur | |
| Sensation aufgebaut und Zentrum eines kurzen, sehr intensiven Hypes wird, | |
| den ihm die Journale seines eigenen Jahrhunderts nie hätten bieten können. | |
| In der Verlaufskurve des Hypes erzählen Serotonin brandaktuelle Themen | |
| direkt aus ihrem Medium heraus. Interviews mit Experten der Kryonik und der | |
| Aufmerksamkeitsforschung im Netz sind geschickt in die immer wilder sich | |
| entwickelnde Fiktion gewoben. SIRI beantwortet Fragen zum ewigen Leben | |
| durch „Neurokonservierung“, und wir Menschen entlarven uns selbst im | |
| freundlichen Skandinavien als auf den eigenen Vorteil bedachte Narzissten. | |
| Die vormals von ihrem Kollegen umschwärmte Wissenschaftlerin lässt sich auf | |
| einen windigen Blogger ein, der die 4.000-Seelen-Siedlung Longyearbyen zum | |
| Touristenhotspot macht, in den nun felltragende Follower einfallen, um sich | |
| fürs ewige Leben abzuhärten. Wie jedes Science-Fiction-Stück ist all das | |
| nur ein, zwei Umdrehungen von der Wirklichkeit entfernt. | |
| Spitzbergen als Ort der Handlung ist gut gewählt, denn längst spielen sich | |
| an diesem nördlichen Außenposten Europas merkwürdige Szenen ab: Mehrere | |
| Länder rangeln um die Bodenschätze unter dem schmelzenden Eis, und | |
| touristische „Einzelgänger“ kommen in Scharen, um die arktische Einsamkeit | |
| per vorgebuchtem Schlittenhund oder Schneemobil ganz für sich zu haben. | |
| Die SchauspielerInnen, allen voran Oliver Brod, Simone Kabst, Bernhard | |
| Schütz, erzeugen ihre Figuren mit geradezu knisternder Frische. Keine Silbe | |
| wirkt abgelesen, ja nicht einmal „gespielt“. Unvergesslich, wie Oliver Brod | |
| als Loser Gunnar besoffen randaliert. | |
| Serotonin sagen mit leichter Hand und sehr viel trockenem Humor Dinge, die | |
| in Zeitstücken gern mit künstlerischer Pose gesagt werden. Und gerade weil | |
| „Van Berg“ so direkt und niedrigschwellig erzählt ist, birgt er die Chance, | |
| auch jenseits der gut informierten Kreise gehört zu werden. | |
| Das wäre schön. Denn wenn alle Katastrophen auserzählt sind, die privaten, | |
| die medialen, die beruflichen, hat die Natur das letzte Wort: In | |
| Großaufnahme tropft Schmelzwasser; die Erzählerstimme sagt gelassen: | |
| „Völlig unangetastet von diesem Getöse schmilzt das nicht mehr ganz so | |
| ewige Eis weiter.“ Der Tonfall erzeugt einen unheimlichen Nachhall. | |
| 14 Apr 2020 | |
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| ## AUTOREN | |
| Gaby Hartel | |
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