# taz.de -- Pilgerpastor Bernd Lohse übers Gehen: „Ich bin nur scheinbar all… | |
> Der Hamburger Pilgerpastor feiert einen Gottesdienst allein – und hofft | |
> auf telepathische Teilnehmer. In diesen Zeiten empfiehlt er, zu pilgern. | |
Bild: Pilgermuschel, Rücksack, Schuhe: Pilgern funktioniert auch im Park neben… | |
taz: Herr Lohse, Sie planen einen „telepathischen“ Pilger-Gottesdienst. Wie | |
geht das? | |
Bernd Lohse: Corona-bedingt werde ich dieses Jahr unsere traditionelle | |
Pilgervesper – einen normalerweise gut besuchten Abendgottesdienst in der | |
[1][Hauptkirche St. Jacobi] – allein feiern. Aber nur scheinbar. | |
Das heißt? | |
Wir werden vorab alle Gottesdienst-Texte sowie Fotos der Kirche auf unsere | |
Homepage stellen. Den Gottesdienst selbst werde ich um 18 Uhr in der Kirche | |
feiern, und die Gemeindemitglieder können das zeitgleich in ihren Wohnungen | |
tun. | |
Werden Sie sich in der leeren Kirche nicht einsam fühlen? | |
Natürlich fühlt es sich komisch an, wenn die Menschen nicht da sind. Aber | |
ich hoffe, die Pilger-Gemeinde sieht vor ihrem inneren Auge, was ich hier | |
tue, und alle fühlen sich, als wären sie dabei. Es ist ein Versuch, mit der | |
Gemeinde in Kontakt zu bleiben – wie auch der bereits angelaufene Online- | |
und Postversand der Predigttexte für die entfallenden | |
Sonntagsgottesdienste. | |
Und was raten Sie den vielen derzeit Eingesperrten jenseits häuslicher | |
Gottesdienste? | |
Soweit es möglich ist – mal rauszugehen. Zu pilgern. Nicht zu wandern, | |
sondern: zu pilgern. | |
Wo liegt der Unterschied? | |
Äußerlich sieht es ähnlich aus. Aber beim Pilgern geht man auch einen | |
inneren Weg. Da setzen sich Menschen bewusst Erfahrungen aus. Pilgern ist | |
Beten mit den Füßen. Allgemeiner formuliert: Pilgern ist eine große Übung | |
der Achtsamkeit. | |
Kann das jeder lernen? | |
Ich denke schon. Mein Rat in der aktuellen Situation: Gehen Sie raus, | |
suchen Sie sich Wege oder einen Park in Ihrer Nähe, und kommen Sie auf | |
einem anderen Weg zurück. Schon haben Sie zwei verschiedene Wege erlebt. | |
Wie findet man den richtigen Rhythmus? | |
Indem man versucht, bewusst ein- und auszuatmen. Beim Einatmen kann man | |
denken: „Ich atme das Licht ein, und es fließt in meinem Körper.“ Beim | |
Ausatmen: „Ich atme das Dunkle aus.“ Wenn man dabei langsam genug geht, | |
kommt man in einen guten Rhythmus und merkt: Es besteht eine direkte | |
Verbindung von Gehen und Wohlbefinden. Nicht zufällig fragen wir einander | |
ja: „Wie geht es dir?“ | |
Bei Ihren regelmäßigen Pilger-Wanderungen um die Alster wird nicht | |
gesprochen. Wie wichtig ist das Schweigen? | |
Es ist eine große Hilfe, um ins innere Gespräch zu kommen. In der Stille | |
komme ich an Gedanken heran, die tiefer verborgen sind. Zweieinhalb Stunden | |
mit 20, 30 Menschen schweigend durch Hamburg zu gehen ist zudem eine starke | |
Kontrasterfahrung. Es ist ein irritierend anderer Moment, in dem ich die | |
Stadt intensiver wahrnehme als sonst. | |
Wie kann das sein, wenn man beim Pilgern doch nach innen schaut? | |
Das ist ja gerade das Paradoxe und das Faszinosum: dass ich durch die | |
[2][Konzentration auf den Atem] wacher werde und aus dem Kreisen um mich | |
selbst herauskomme. Das meditative Gehen ist eine Form, anders Kontakt mit | |
der Welt aufzunehmen: Ich will sie nicht beherrschen oder bekämpfen, | |
sondern sie als gute Freundin erleben. Mich ihr verbunden fühlen. | |
Und damit auch anderen Menschen, zu denen ich derzeit keinen physischen | |
Kontakt haben darf? | |
Ja, und das ist das Spannende: dass es andere Formen von Begegnung gibt als | |
durch Worte, Nähe und Umarmung. Schon die Blicke, die Menschen senden, wenn | |
sie in Ruhe gehen, zeugen von Verbundenheit. Ich habe zurzeit den Eindruck, | |
dass Menschen viel freundlicher werden, wenn sie langsamer gehen. | |
Seit wann pilgert der Mensch überhaupt? | |
Das ist eine uralte weltweite Kulturtechnik. Die Aborigines etwa sind schon | |
vor 10.000 Jahren zu ihrem heiligen Berg gepilgert, dem [3][Uluru], den die | |
englischen Kolonialherren Ayers Rock nannten und den Touristen jetzt | |
endlich nicht mehr besteigen dürfen. Pilgerreisen bzw. Wallfahrten gibt es | |
in allen Religionen, oft als Reinigungs- und Buß-Rituale. Heute würde ich | |
eher von „Entlastung“ sprechen: Man erlebt auf der Pilgerfahrt Einsamkeit, | |
ist sich selbst ausgesetzt, und durch diese Erfahrung verändert sich etwas. | |
Ob man es „Begegnung mit Gott“ nennt, ist nicht entscheidend. Wichtig ist, | |
dass man entlastet, befreit wiederkommt. | |
Kann es auch Familien oder WGs helfen, die einander Zuhause derzeit extrem | |
ausgesetzt sind? | |
Ich denke schon. Statt zu explodieren geht man lieber raus, pilgert – gern | |
zwei Stunden oder länger – und kommt verändert wieder. Man kann sich | |
übrigens auch in eine Kirche setzen. Tagsüber sind viele von ihnen | |
weiterhin geöffnet, um Menschen genau diesen Ort zum „Kopf-Hängenlassen“ … | |
bieten. Ich würde sogar sagen: wer geht, dem geht’s besser. | |
1 Apr 2020 | |
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## AUTOREN | |
Petra Schellen | |
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