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# taz.de -- 50 Jahre Tibet-Aufstand: Sie hoffen noch immer
> Rund 130.000 Exiltibeter leben in Indien. In Dharamsala lebt der Dalai
> Lama, hier sitzt die Exilregierung. Weshalb der Ort auch zur Pilgerstätte
> westlicher Touristen geworden ist.
Bild: Zuflucht bei den Bergen gefunden: ein tibetanischer Mönch in Dharamsala.
"In der ersten Zeit nach meiner Flucht hatte ich noch stark die Hoffnung,
in vielleicht zwei oder drei Jahren nach Tibet zurückkehren zu können,"
sagt Bhartso Rinchen Wangyal. "Inzwischen ist viel Zeit vergangen. So wie
sich China momentan verhält, wird die Rückkehr wohl noch warten müssen."
Bhartso erinnert sich sehr genau. Kurz nachdem er vom Aufstand in Tibets
Hauptstadt Lhasa am 10. März 1959 und der Flucht des 14. Dalai Lama
erfahren hatte, änderte sich sein Leben schlagartig. Bei einer Razzia
chinesischer Sicherheitskräfte in seinem Heimatort Sakya, 250 Kilometer
westlich von Lhasa, wurde der damals 23-Jährige verhaftet. Weil er für
Tibets Regierung gearbeitet hatte und zur oberen Mittelschicht gehörte, kam
er für zwei Jahre ins Gefängnis.
Nach seiner Freilassung entschloss sich Bhartso, im selben Jahr wie der
Dalai Lama geboren, mit seiner Frau zur Flucht. Der 15-tägige Fußmarsch war
extrem strapaziös: "Wir hatten nichts mehr zu essen und aßen aus
Verzweiflung Erde", erinnert er sich. Seine eineinhalbjährige Tochter
musste er tragen. Die Flucht in das damals unabhängige Sikkim - heute
Indien - gelang, doch Bhartsos Frau erkrankte und starb 1963 nach der
Geburt des zweiten Kindes an Tuberkulose. Auch das Baby hat nicht überlebt.
Trotzdem sagt Bhartso: "Die Freude über die Ankunft im Exil überragte den
Verlust."
Der Anfang im indischen Exil war nicht nur wegen des Verlusts von Frau,
Kind und Heimat hart. Wie viele geflohene Tibeter fand auch Bhartso
zunächst nur im Straßenbau Arbeit. Indiens Ministerpräsident Jawaharlal
Nehru nahm die Tibeter mit offenen Armen auf. Er ließ aus strategischem
Kalkül gegenüber China eine Exilregierung zu und gewährte den Exilanten
politische und kulturelle Autonomie und eigene Schulen. Flüchtlinge bekamen
Ackerland zugesprochen. Bhartso wurde Lehrer und später Schuldirektor.
Wie er flohen mit der Niederschlagung des Aufstands 80.000 Tibeter ins
Exil. Zwar war seit 1956 eine tibetische Guerilla aktiv gewesen, die vom
US-Geheimdienst CIA unterstützt wurde, doch der vom 10. bis 19. März
dauernde Aufstand entwickelte sich spontan. Er war Ausdruck der
Unzufriedenheit der Tibeter mit der Bevormundung durch China, die sich seit
dem sukzessiven Einmarsch 1950/51 angestaut hatte.
Weil der Dalai Lama in jenem März 1959 in Lhasa zu einer Aufführung in das
chinesische Armeehauptquartier bestellt worden war, ging das Gerücht, er
solle festgenommen werden. Das mobilisierte zehntausende Tibeter. Sie
umstellten den Norbulingka-Palast, um ihren vergötterten Führer zu
schützen. Die davon ausgehende Volkserhebung wurde von Chinas Truppen
niedergeschlagen. Laut Exilregierung kamen bei den Unruhen 86.000 Tibeter
ums Leben.
Die Regierung in Peking nutzte den Aufstand, um autonome tibetische
Institutionen zu zerschlagen und in Tibet ihre sozialistische Revolution
durchzusetzen. Den Tag der Auflösung der tibetischen Regierung, den 28.
März 1959, hat Peking in diesem Januar zum "Tag der Befreiung von der
Leibeigenschaft" erklärt. Mit diesem Feiertag will die chinesische Führung
dem tibetischen Gedenken des Aufstands ihre Version der Geschichte
entgegensetzen.
Seit 1959 hoffen die Exiltibeter auf Rückkehr, mal mehr und mal weniger.
"Während der Kulturrevolution war die Hoffnung sehr gering", sagt Bhartso.
In dieser Zeit wurden fast alle tibetischen Klöster und Tempel zerstört.
Doch immer wieder weckten Proteste in Tibet, aber auch Gespräche zwischen
Vertretern des Dalai Lama und der Pekinger Regierung Hoffnungen auf
politischen Wandel in Tibet. "Eine Revolte löst bei allen Tibetern die
gleichen Gefühle aus, es ist wie ein Vulkan", sagt Bhartso. Doch die
Hoffnung sinkt auch schnell wieder, wenn Peking sich unnachgiebig zeigt und
so hart durchgreift wie nach den antichinesischen Unruhen im März 2008.
Heute leben etwa 110.000 der rund 130.000 Exiltibeter in Indien, und zwar
mehrheitlich im Süden des Landes. Doch die kleine tibetische
"Exilhauptstadt" Dharamsala mit knapp 8.000 Tibetern - bei 19.000
Einwohnern - liegt im Nordwesten und damit in geografischer wie
klimatischer Nähe zur Heimat. Dharamsalas oberer Ortsteil McLeod Ganj, auch
"Klein-Lhasa" genannt, liegt auf knapp 1.800 Meter Höhe im Bundesstaat
Himachal Pradesh am Fuße eines Ausläufers des Himalaja. Hier lebt der Dalai
Lama in einem Teil des Tsuglagkhang-Tempelkomplexes, des größten
tibetischen Tempels außerhalb der Heimat.
McLeod Ganj hat sich zu einem Pilgerort internationaler Tibet-Freaks und
Buddha-Jünger entwickelt. In dem mit Gebetsfahnen geschmückten Ort, in dem
mehrere Affenherden leben und über den immer viele Raubvögel kreisen,
kaufen die Besucher Free-Tibet-Shirts, Dalai-Lama-Bücher oder CDs mit
spiritueller Musik. Die Touristen belegen Kurse in tibetischer Astrologie
und verbringen den Tag mit Mantren, Mystik, Massagen oder Meditation. Auf
den Straßen des kleinen Bergorts sind mehr ausländische Touristen als
tibetische Mönche zu sehen.
Etwas unterhalb des Tsuglagkhang-Tempels haben die tibetische Exilregierung
und das Exilparlament ihren Sitz. Einer der 43 Abgeordneten ist Karma
Choephel. Er war bis November 2008 Parlamentssprecher. Der heute 59-Jährige
erinnert sich ebenfalls noch gut an die Flucht als Kind. Als seine Eltern
sich zur Flucht entschlossen, waren die chinesischen Truppen noch nicht bis
in Choephels im Westen gelegenen Heimatort am Fuße des Kailasch
vorgedrungen. So glich die Flucht seiner Familie zunächst eher einer
Pilgerreise, doch starb sein Vater bald nach der Ankunft in Indien.
Anders als Bhartso hält Choephel den vom Dalai Lama vorgeschlagenen
sogenannten Mittleren Weg - also eine volle kulturelle Autonomie für Tibet
bei gleichzeitiger Anerkennung der chinesischen Oberhoheit - für
inakzeptabel. Da er sich geschworen hat, nur in ein "freies Tibet"
zurückzukehren, wird Choephel wohl zu seinen Lebzeiten keinen tibetischen
Boden mehr betreten. "Die chinesische Führung hat getötet, verletzt und
vergewaltigt. Wie könnte ich da zurückkehren?", fragt Choephel. "Das ist
unmöglich. Ich habe nicht so ein großes Herz wie der Dalai Lama." Er habe
große Hoffnungen gehegt, als 1976 Mao Zedong starb. Aber dann habe sich für
die Tibeter doch nichts geändert. Vielmehr hätten sie es versäumt, die Zeit
zu nutzen, als die Volksrepublik China bis 1971 nicht in der UNO vertreten
war.
"Wir, die wir hier in Indien geboren sind und nie unsere Heimat gesehen
haben, wollen unbedingt dorthin", bekräftigt Urgen Tenzin. Er leitet das
Tibetische Zentrum für Menschenrechte und Demokratie (TCHRD). Es ist im
Gebäude des Außen- und Informationsministeriums der Exilregierung
untergebracht und eine Art Ausgründung desselben. "Die jungen Tibeter sind
sehr frustriert. Sie haben den Eindruck, dass bei den Gesprächen mit China
nichts herauskommt. Deshalb glauben sie, dass der Mittlere Weg des Dalai
Lama keine Zukunft hat." Obwohl dieser letztlich gar nicht so weit von der
Position der Chinesen entfernt sei. "Für die Position des Mittleren Weges
und der Gewaltlosigkeit bekommen wir viel internationale Unterstützung",
sagt Tenzin. "Die repressive Politik der Chinesen kann doch nicht ewig so
weitergehen."
Gegen den Mittleren Weg des Dalai Lama ist Tsewang Rigzin, Präsident des
Tibetischen Jugendkongresses (TYC). Mit 30.000 Mitgliedern ist es die
größte tibetische Exilorganisation. "Unser Ziel ist die Unabhängigkeit",
sagt Rigzin. "Und das werden wir nie aufgeben." Er ist enttäuscht vom
Ausgang des Treffens der Exiltibeter im November in Dharamsala, das den
Mittleren Weg bestätigte. "Ich dachte, der Dalai Lama wollte alle Optionen
diskutieren. Denn nur um über den Mittleren Weg zu beraten, brauchten wir
dieses Treffen nicht", sagt er. "Solange wir unsere Hoffnung
aufrechterhalten, ist es unser Recht, die Unabhängigkeit zu bekommen." Wer
sich die Weltgeschichte anschaue, entdecke immer wieder Ereignisse, die
zuvor unrealistisch erschienen seien, theoretisiert Rigzin: "Sehen Sie
Barack Obama. Vor 40 Jahren war ein schwarzer US-Präsident noch völlig
undenkbar!" Wohl auch deshalb lehnt neben Rigzins Schreibtisch, über dem
ein Foto des Dalai Lama hängt, ein stilisiertes Obama-Bild mit der
Aufschrift "Hoffnung" an einer tibetischen Flagge.
Für den 36-jährigen Topjor, der wie viele Tibeter nur einen Namen hat, ist
die Frage der Rückkehr vorerst abwegig. Denn er ist erst am 7. Januar
dieses Jahres geflohen. Nachdem er schon einmal wegen eines Protests
gefoltert wurde und fünf Jahre inhaftiert gewesen ist, schien ihm die
Situation nach den Unruhen 2008 zu brenzlig. Fluchthelfer brachten ihn über
die Grenze. "In Dharamsala möchte ich erst einmal Fuß fassen und Englisch
lernen", sagt er. 2008 sind nach Angaben der tibetischen Exilbehörden 627
Tibeter nach Indien und Nepal geflohen - weniger als in den Vorjahren, weil
die Grenze strenger kontrolliert wird. Doch 50 Jahre nach dem Volksaufstand
treiben dessen Ursachen noch immer Tibeter ins Exil.
9 Mar 2009
## AUTOREN
Sven Hansen
Sven Hansen
## TAGS
Meditation
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