# taz.de -- Mitteleuropäische Pilgerwege: O Maria, hilf! | |
> Die Muttergottes für alle Fälle. Pilgern auf dem Steirisch-Slowenischen | |
> Marienweg ins österreichische Mariazell ist für viele mehr als ein | |
> katholisches Ritual. | |
Bild: Devotionalienladen im österreichischen Mariazell. | |
Pilgern ist – auch – eine Singlebörse. Diese Einschätzung kommt aus | |
berufenem Mund. Lidija Vindis ist nicht nur diplomierte Pilgerbegleiterin, | |
sondern hat selbst einschlägige Erfahrung. Davon zeugt ihr noch nicht | |
einjähriges Töchterchen Alma, dessen Vater Lidija auf der Pilgerschaft | |
kennengelernt hat. Pilgern ist auch ein Weg zur inneren Einkehr, es | |
trainiert die Muskulatur und ist ein gutes Geschäft für Gastronomie und | |
Devotionalienhandel. Deswegen werden in der Steiermark und dem nördlichen | |
Slowenien im Rahmen eines EU-Projekts alte Pilgerpfade ausgeschildert und | |
beworben. | |
Das Projekt „Steirisch-Slowenische Marienpilgerwege“ will eine | |
mitteleuropäische Pilgerregion schaffen, in der, so der Pressetext, „aus | |
religiöser Sicht der Glaube eine verbindende Einheit schafft, in der aus | |
säkularer Sicht aber die Einheit in der Vielfalt betont wird“. Pilgern ist | |
nicht nur bei religiös motivierten Menschen in Mode gekommen, es ist ein | |
„Megatrend“. | |
Anders als der Wanderer, der sich an Landschaft und körperlicher | |
Ertüchtigung erfreut, sucht der Pilger die Balance von Körper, Geist und | |
Seele. Selbst bekennende Atheisten haben von spirituellen Erfahrungen auf | |
der Pilgerschaft berichtet. | |
Aber, egal ob man die vielen Kirchen auf den Pilgerpfaden als Orte der | |
religiösen Einkehr oder als Ruhepole und kunsthistorisch bemerkenswerte | |
Bauwerke betrachtet: Es lohnt sich. Die Pfade führen oft durch Wälder, über | |
sumpfige Wiesen, wo die Kühe sich nicht mehr über die vielen Fremdlinge | |
wundern, gelegentlich über echte Berge wie den Schöckl nördlich von Graz | |
und manchmal einfach über die Landstraße auf dem Asphalt. | |
Der Marienpilgerweg beginnt im kroatischen Marija Bistrica und führt über | |
verschiedene Routen durch Slowenien. Entweder bei Bad Radkersburg oder bei | |
Mureck überquert man die Mur und damit die nicht mehr sichtbare | |
Staatsgrenze in die Steiermark. Es gibt Zubringer zum Jakobsweg nach | |
Santiago de Compostela und einen Teil des Martinswegs, der ins französische | |
Tours führt. Im Zentrum aber stehen die Wege, die sternförmig auf den | |
Wallfahrtsort Mariazell zustreben. Die über 850 Jahre alte Mariazeller | |
Madonna, eine Marienstatue aus Lindenholz, gilt nicht nur als Magna Mater | |
Austriae, sie wird auch von den Ungarn als Magna Hungarorum Domina und von | |
den Slawenvölkern als Alma Mater Gentium Slavorum verehrt. Kein Papst kommt | |
daran vorbei. | |
## Roma-Vereine organisieren gemeinsame Wallfahrt | |
Warum die Roma und Sinti jedes Jahr aus den ehemaligen habsburgischen | |
Erblanden zu einer gemeinsamen Messe in den Wallfahrtsort kommen, weiß man | |
nicht. Die Tradition reicht aber mindestens bis ins 19. Jahrhundert zurück. | |
Die vor zwei Jahren gestorbene Roma-Autorin Ceija Stojka erinnert sich in | |
ihren Memoiren an einen Wunsch, den ihre Mutter in Bergen-Belsen geäußert | |
habe: „Weißt du, wenn wir das KZ überleben sollten, dann machen wir wieder | |
eine Wallfahrt nach Mariazell und danken der lieben Mutter Gottes. | |
Mariazell war für mich das Schönste, ein wahres Paradies.“ Roma, die das | |
Nazi-Regime überlebte, pilgerten bald nach Mariazell, um sich für ihre | |
Rückkehr aus den Konzentrationslagern zu bedanken. Viele verbanden diese | |
Wallfahrten mit einem Besuch der Gedenkstätte in Mauthausen. Seit 1996 | |
organisieren die Roma-Vereine im Sommer eine gemeinsame Wallfahrt. | |
Mariazell ist auch ein beliebtes Ziel für Jugendliche, die die Matura | |
glücklich hinter sich gebracht, für Menschen, die Krankheit oder Krisen | |
überstanden haben, für Fromme und weniger Fromme, für organisierte | |
Reisegruppen und Individualpilger. Davon zeugen die Gästebücher in den | |
Herbergen, die sich auf die Unterbringung von Pilgern spezialisiert haben. | |
Selbst die geschlossene ÖVP-Fraktion der Bundesregierung wurde nach dem | |
überraschenden Wahlsieg 2002 zur Wallfahrt nach Mariazell vergattert. | |
Allerdings beschritt sie nicht den rund 110 Kilometer langen Pilgerweg von | |
Wien, sondern reiste im Bus an. | |
Mariazell ist insofern ein untypischer Marienwallfahrtsort, als hier keine | |
Muttergotteserscheinung dokumentiert ist. Das Wunder soll sich vor mehr als | |
850 Jahren zugetragen haben, als der Mönch Magnus vom Kloster St. Lambrecht | |
mit einer Marienstatue unterwegs war und ihm plötzlich ein Fels den Weg | |
versperrte. Die heilige Maria soll ihm dann einen Weg gewiesen haben. Die | |
größten Wallfahrtsorte der Christenheit sind das portugiesische Fatima und | |
Lourdes am Fuße der französischen Pyrenäen. Dort soll Kindern die | |
Muttergottes erschienen sein. Der Vatikan hat mehrere Wunder zertifiziert - | |
anders als im bosnischen Medjugorje, wo der Kommerz ohne vatikanischen | |
Segen regiert. Jedes Jahr pilgern Millionen Gläubige an die Orte der | |
Marienerscheinungen. | |
Es scheint, dass die Verehrung starker Frauenfiguren einem menschlichen | |
Grundbedürfnis entspricht. Die Gottesmutter, die als Inbegriff des | |
Katholischen erscheint, hat ja als Muttergöttin eine lange Vergangenheit | |
und ist in allen Kulturen zu beobachten. Darstellungen der Göttin Isis im | |
alten Ägypten, der Jagdgöttin Artemis im antiken Griechenland, der | |
phrygischen Gottesmutter Kybele erinnern oft an Madonnenbilder in der | |
katholischen Welt. | |
## Die Qualität der Muttergottes | |
Selbst zur babylonischen Ischtar, die als Göttin des sexuellen Begehrens | |
und des Krieges eine Art Gegenpol zur keuschen und leidenden Maria war, | |
oder zur aztekischen Göttermutter Toci, der Menschen geopfert wurden, kann | |
man Parallelen ziehen. Die japanische Göttin der Barmherzigkeit, Kwanon, | |
Namensgeberin der Kameramarke Canon, teilt Eigenschaften, die auch Maria | |
zugeschrieben werden. | |
Im Christentum herrschte mehrere Jahrhunderte keine Einigkeit hinsichtlich | |
der Qualität der Muttergottes. Erst auf dem Konzil von Ephesos im Jahr 431 | |
einigten sich die Kirchenväter darauf, dass Maria „Gottesgebärerin“ gewes… | |
sei. Bereits vorhandene Muttergottheiten bei Völkern, die Ziel von | |
Missionierung waren, wurden zur Muttergottes umgedeutet. Das mag auch die | |
teilweise sehr ähnliche Ikonografie erklären. | |
Bei den Muttergottheiten „geht es immer um Fruchtbarkeit und Auferstehung“, | |
wie die österreichische Religionsphilosophin Ursula Baatz meint. Die | |
metaphorische Bedeutung der Gottesmutter ist so breit, dass von den | |
erzreaktionären Fundamentalisten bis zu religionsfernen Feministinnen die | |
unterschiedlichsten Gruppen ihre Vorstellungen repräsentiert sehen. | |
Deswegen will der inzwischen pensionierte Bischof Egon Kapellari, in dessen | |
Zuständigkeitsbereich Mariazell lag, keine einseitige Vereinnahmung der | |
Gestalt durch die katholischen Fundamentalisten erkennen. | |
Trotzdem kann man kaum übersehen, dass gerade die konservativen Kleriker | |
den Marienkult betreiben. Papst Johannes Paul II. machte die Madonna von | |
Tschenstochau in seiner polnischen Heimat zur Speerspitze gegen das | |
kommunistische Regime. Und Radio Marija in Polen ist heute noch ein Hort | |
reaktionärster Geisteshaltung. Die italienische Ethnologin Ida Magli setzt | |
Maria in Gegensatz zur Urmutter Eva: "Die Madonna, heiliggesprochen, noch | |
ehe sie geboren war, ist gänzlich verschieden von Eva, die in Versuchung | |
geführt wird. Eva ist frei, Maria ist es nicht." | |
Die Madonnenverehrer, so Magli in ihrem Buch "Die Madonna", seien besessen | |
von der Keuschheit Marias. Maria habe die Versuchung nie besiegt, sondern | |
sie abgelehnt. Oft wird Maria dargestellt, wie sie die Schlange mit dem Fuß | |
zerquetscht. Magli: „Weil sie den Kampf mit ihr nicht aufgenommen hat. Wenn | |
sie da ist, gibt es den Versucher nicht. Doch was ist die Schlange anderes | |
als die männliche Sexualität?“ | |
## „Nicht praktikable Tugenden“ | |
Die Marienverehrung, wie sie von den Kirchenmännern jahrhundertelang | |
betrieben wurde, habe auf die Frauen nur negative Auswirkungen gehabt, | |
meint Magli. Unter Ausblendung der meist schrecklichen Lebenswirklichkeiten | |
der Frauen hätten sie die Glaubensverkünder „ständig mit nicht praktikablen | |
Tugenden“ konfrontiert und sie ermahnt, „in sich selbst die Ursache für | |
alle Sünden der Menschen zu sehen“. | |
Das hindert aber auch Feministinnen nicht, sich mit der Gottesmutter zu | |
identifizieren. Für die New Yorker Schriftstellerin und | |
Jeanne-dArc-Biografin Mary Gordon „sehen wir in der menschlichen Gestalt | |
Marias, der Mutter, unsere tiefsten Sehnsüchte, die Verheißung der Rettung, | |
der Erlösung von der Last des Fleischs verkörpert“. | |
Für die Mehrzahl der Pilgerinnen und Pilger, die jedes Jahr vor allem im | |
Sommer nach Mariazell strömen, sind das äußerst ferne Überlegungen. Die | |
Gnadenmutter in der imposanten Basilika ist für sie eine unschuldige | |
Heilige, die weniger mit patriotischen oder gar sexuellen Inhalten | |
aufgeladen ist, sondern in konkreten Notfällen hilft. Davon zeugen | |
unzählige Votivtäfelchen, die Gläubige hinterlassen haben. Sie haben sich | |
bei Krankheit, Schicksalsschlägen oder in Lebenskrisen an die Madonna | |
gewandt, fanden Schutz oder Trost und und dokumentierten das segensreiche | |
Einschreiten Marias auf einem der Schildchen, die im hinteren Bereich und | |
der oberen Galerie der Kirche die Wände pflastern. | |
Man mag an die himmlischen Interventionen der Gottesmutter glauben oder | |
nicht. Aber der kleine Ort Mariazell, seine Beherbergungsbetriebe, | |
Gasthäuser und Devotionalienhändler leben ausschließlich davon. | |
5 Jul 2014 | |
## AUTOREN | |
Ralf Leonhard | |
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