| # taz.de -- Umgang mit dem Coronavirus: Die kalte Panik | |
| > Die heftigen Reaktionen auf Corona zeugen von einem tiefliegenden | |
| > Bedürfnis, endlich unsere katastrophale Normalität zu suspendieren. | |
| Bild: Plötzliche scheint es möglich, unser business as usual zu ändern | |
| Erinnert sich noch jemand an [1][Greta Thunbergs Botschaft] angesichts des | |
| drohenden Klimakollaps vor gut einem Jahr? „I want you to panic!“. Seitdem | |
| hat sich viel getan: Das Thema Klimawandel ist endgültig im Mainstream | |
| angekommen, Regierungen haben erste, bei weitem nicht ausreichende, | |
| ökologische Reformen beschlossen, man spricht von einer neuen Politisierung | |
| der Jugend. Doch die Panik ist ausgeblieben – zu schleichend ist die | |
| Katastrophe planetaren Ausmaßes, die zwar aus geologischer und | |
| evolutionsbiologischer Perspektive viel zu schnell passiert, aus | |
| menschlicher allerdings zu langsam, um wirklich zu drastischem oder gar | |
| panischem Handeln zu führen. | |
| Covid-19 löst ganz andere Reaktionen aus: In schier unmöglich gedachter | |
| Geschwindigkeit werden Reiseverbote erlassen, Grenzen, Universitäten, | |
| Schulen geschlossen, [2][das öffentliche Leben beschnitten] und die | |
| internationalen Produktionsketten unterbrochen. Flüge werden gestrichen, | |
| Fabriken heruntergefahren: Der globale CO2-Ausstoß ging in den letzten | |
| Wochen stark zurück – und das auch aufgrund einer Panik, die eigentlich | |
| nicht auf dem ökologischen Problem fußt. Abseits von virologischen | |
| Kalkülen, gesundheitspolitischen Rationalitäten und Clickbait-Panik sollte | |
| auch die Frage gestellt werden, inwieweit sich hier nicht auch gerade ein | |
| Bedürfnis nach Panik in unseren ökologisch katastrophalen Lebensweisen | |
| äußert. | |
| Gleich vorweg: Die Bedrohung des neuartigen Covid-19-Virus ist real, dies | |
| kann niemand abstreiten. Mit einer Inkubationszeit von zwei Wochen bei | |
| gleichzeitig hoher Infektionsrate ist der neuartige Coronavirenstamm ein | |
| virologischer Albtraum, dessen Ausbreitung kaum zu stoppen ist. Aktuelle | |
| Schätzungen besagen, dass vielleicht bis zu 40 bis 70 Prozent der | |
| Weltbevölkerung von dieser „globalen Pandemie“ (so nun die offizielle | |
| Einstufung der WHO) letzten Endes infiziert sein werden. | |
| Dennoch ist Panik, wie sie sich in Hamsterkäufen, Liveticker-Updates zur | |
| Zahl der Infizierten und übereilten wie teils auch ineffektiven | |
| Quarantäneerlassen äußert, fehl am Platz. In der panischen Affektlage des | |
| momentanen Diskurses heizen die Katastrophenszenarien die gesellschaftliche | |
| Stimmung in einer Weise auf, dass [3][fast alle Maßnahmen] unkritisch | |
| akzeptiert (und teils sogar eingefordert) werden. | |
| Doch hört man auf nüchtern gebliebene Stimmen wie etwa jene des | |
| Infektiologen Pietro Vernazza, ist die Mortalitätsrate, bei | |
| Berücksichtigung der hohen Dunkelziffer der Infizierten ohne Ausbruch von | |
| Symptomen, wahrscheinlich weit unter den derzeit veranschlagten ein | |
| Prozent. Erinnern wir uns: Vor gut einer Woche war noch die Rede von zwei | |
| Prozent. | |
| Die Bevölkerung wird sich höchstwahrscheinlich langsam immunisieren und | |
| auch Impfstoffe werden vermutlich schon in diesem Monat an Proband_Innen | |
| getestet. Es wird zu einer tragischen Anzahl an Toten kommen, aber ob diese | |
| die Zahl von Opfern häuslicher Gewalt, ökologischer Schäden, | |
| Verkehrsunfällen oder schlichtweg anderer Viren weltweit in selber Zeit | |
| übersteigt, bleibt mehr als fraglich. | |
| Es gibt sogar bereits – zugegebenermaßen etwas an den Haaren herbeigezogene | |
| – Gegenrechnungen, die besagen, dass aufgrund des Coronavirus und der | |
| ökologisch positiven Auswirkungen der Beschränkungsmaßnahmen weniger Leute | |
| sterben werden, als wenn es den Virus nicht gegeben hätte. | |
| Wie kann es also zu dieser vielfach panischen Reaktion angesichts des | |
| Coronavirus kommen? Die Philosophin Isabelle Stengers bezeichnet die | |
| emotionale Grundhaltung unserer sich der ökologischen Katastrophe bewusst | |
| werdenden Gesellschaften als „kalte Panik“. Wir – die in Flugzeugen | |
| fliegen, reichen Konsumgesellschaften angehören und von globalen | |
| ökonomischen Ungleichheiten profitieren – wissen um unsere Komplizenschaft | |
| an der schleichenden Öko-Katastrophe, die uns nicht nur überrollen wird, | |
| sondern mit der wir alle mitrollen. Es ist die Normalität des zu großen | |
| ökologischen Fußabdrucks, die die Katastrophe ist. Doch vor dem, was normal | |
| ist, kann man schwerlich in Panik geraten. | |
| Symptomatisch für diesen Zustand der „kalten Panik“ gibt es offensichtlich | |
| eine große Sehnsucht und mediale Nachfrage nach Katastrophen. Doch die | |
| eigentlich diesen fragilen Zustand bewirkende Katastrophe ist zu diffus und | |
| zu komplex, um als Objekt der Panik herzuhalten. In diesem hypernervösen | |
| Zustand stürzen wir uns gierig auf alle möglichen anderen potenziellen | |
| Panikquellen: Neben den einfach zu aktivierenden rassistischen Motiven | |
| einer „Flüchtlingskrise“ eignet sich das Virus besonders gut – und spielt | |
| teilweise sogar dieselben Register eines „Eindringlings von außen“, gegen | |
| den man sich abschotten muss. | |
| Warum aber ist dann die Panik gegenüber Corona höher, als dies bei SARS | |
| oder der Schweinegrippe der Fall war? Neben dem virologisch anderen | |
| Charakter des Covid-19-Virus mag ein Erklärungselement auch der | |
| titelgebende Slogan Thunbergs sein: Das Bewusstsein über den ökologisch | |
| katastrophalen Zustand unseres Planeten ist seit der neuen Umweltbewegung | |
| stark gestiegen – und mit ihr die „kalte Panik“. | |
| Könnte es sein, dass die heftigen Reaktionen auf das Coronavirus auch aus | |
| einem Bedürfnis entspringen, die katastrophale Normalität zu suspendieren? | |
| Manchmal scheint man fast eine Art romantische Erleichterung gegenüber all | |
| den Absagen, Flugsperren und Produktionsstopps zu verspüren. Es scheint ja | |
| nun plötzlich doch irgendwie möglich zu sein, unser katastrophales business | |
| as usual zu ändern. Wenn schon nicht durch Fridays for Future, so halt mit | |
| Covid-19. | |
| Doch muss man aufpassen, die beiden Probleme nicht zu vermischen. Ein Virus | |
| bedarf anderer Maßnahmen als die ökologische Katastrophe. Ziel der | |
| staatlichen Maßnahmen ist es, die Ausbreitung der Pandemie so zu | |
| verlangsamen, dass es nicht zu einer Überlastung oder gar einem | |
| Zusammenbruch der Gesundheitssysteme kommt. Flatten the curve – so der | |
| Slogan, der sich viraler als das Virus ausgebreitet hat. | |
| Eine zu panische Reaktion hingegen übersieht die Gefahren der massiven | |
| Eingriffe ins öffentliche Leben, die zurzeit von der allergrößten Mehrheit | |
| kritiklos hingenommen werden. So steigt etwa die Zahl der Opfer von | |
| häuslicher Gewalt bei Quarantäne stark an, auch die soziale Verrohung in | |
| den Supermarktschlangen und das Aufflammen von zwischenmenschlichem | |
| Misstrauen und rassistischen Stereotypen (gegenüber ItalienerInnen und | |
| AsiatInnen) sind eine reale Bedrohung. Und bei zu exzessiven Hamsterkäufen | |
| könnte die Versorgung nicht aufgrund des Virus, sondern aufgrund der falsch | |
| ausgelebten Panik zusammenbrechen. | |
| Spielt die „kalte Panik“ unserer ökologisch prekären Situation zu sehr in | |
| die gegenwärtige Corona-Krise, laufen wir Gefahr, in ein dystopisches | |
| Szenario zu rutschen: Dann werden alle Kulturveranstaltungen und | |
| Lehrinstitutionen geschlossen, das öffentliche Leben beschnitten, und die | |
| neuen alten Führergestalten der Politik inszenieren sich als messianische | |
| Beschützer in einem rigorosen Überwachungsstaat, während andere drängende | |
| Probleme wie die Lage von Geflüchteten in Griechenland, die Notwendigkeit | |
| eines ökologischen Wandels oder auch nur der vernünftige Umgang mit einer | |
| Pandemie unter den Tisch fallen. | |
| Die moderne Gesellschaft wird mit Covid-19 – wie schon mit der | |
| Schweinegrippe oder SARS – aller Wahrscheinlichkeit nach einen Umgang | |
| finden. In puncto ökologische Katastrophe steuern wir aber weiterhin | |
| ungebremst auf den Kollaps zu. Hierbei können wir sogar von Corona lernen: | |
| Es ist möglich, Flüge zu verbieten, Produktionen runterzufahren und andere | |
| drastische Verbote auszusprechen. Doch die Panik an falschen Orten ist | |
| gefährlich. | |
| 14 Mar 2020 | |
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