# taz.de -- Flüchtlinge an der EU-Außengrenze: Menschenwürde ist antastbar | |
> In Krisen zeigt sich, wer man ist. Die EU rutscht in eine | |
> Legitimationskrise. Wie will dieses Europa eigentlich noch für | |
> Rechtsstaatlichkeit werben? | |
Bild: Campieren im Dreck: ein Kind in einem Flüchtlingslager nahe der türkisc… | |
Was die Europäische Union sein will, was ihr wichtig ist und für wen sie da | |
sein möchte, hat sie in ihrer Grundrechtecharta festgehalten. Sätze stehen | |
dort, die leuchten wie Sterne in tiefster Nacht. | |
Artikel 1: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ | |
Artikel 2: „Jeder Mensch hat das Recht auf Leben.“ | |
Artikel 3: „Jeder Mensch hat das Recht auf körperliche und geistige | |
Unversehrtheit.“ | |
## Auf der falschen Seite des Stacheldrahts | |
Was die Europäische Union ist, wie sie handelt und wen sie im Zweifel | |
bekämpft, lässt sich seit gut einer Woche an der griechisch-türkischen | |
Grenze beobachten. Die angebliche Wertegemeinschaft benimmt sich, als sei | |
sie im Krieg. Die Würde des Menschen ist nämlich sehr wohl antastbar, | |
jedenfalls dann, wenn er auf der falschen Seite des Stacheldrahts steht. | |
Und seiner Rechte auf Leben und körperliche Unversehrtheit darf sich der | |
Mensch nicht allzu gewiss sein. | |
Seitdem der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan tausende Geflüchtete | |
an die EU-Außengrenze schickte, wird mit jedem Tag klarer: Der Firnis der | |
europäischen Zivilisation ist dünn. Griechische Grenzschützer treiben | |
Geflüchtete mit Tränengas und Blendgranaten zurück, sogar scharfe Schüsse | |
sollen gefallen sein. Mitarbeiter der Küstenwache schlagen mit Stangen auf | |
Menschen in Schlauchbooten ein. Rechtsextreme patrouillieren auf Lesbos und | |
machen Jagd auf Journalisten oder Mitarbeiter von Hilfsorganisationen. | |
Die EU könnte Erdoğan keinen größeren Gefallen tun, weil sie ihn mächtiger | |
erscheinen lässt, als er ist. Sie reagiert mit Panik, kaum dass er ein paar | |
Reisebusse rollen lässt. Der türkische Autokrat, der sich den Staat zu | |
eigen macht, kritische Journalisten einsperrt und die Opposition | |
unterdrückt, kann nun feixend kritisieren, dass die EU selbst die | |
Menschenrechte mit Füßen tritt. Das Fürchterliche ist, dass man ihm nicht | |
mehr widersprechen mag. | |
Die EU rutscht gerade in eine doppelte Legitimationskrise. Sie steht seit | |
Längerem unter Druck, weil viele Menschen sie für einen teuren und | |
bürokratischen Moloch halten, der den Nationalstaaten vorschreibt, was sie | |
zu tun und zu lassen haben – siehe Brexit. Doch nun kommen auch | |
Linksliberale in Rechtfertigungszwänge, die die EU – trotz all ihrer Mängel | |
– verteidigen. Viele sagen: Das ist nicht mein Europa der Demokratie und | |
Rechtsstaatlichkeit, kann es nicht sein. Wer kann es ihnen verdenken? | |
## Kriegsrhetorik statt Nüchternheit | |
In Krisen zeigt sich, wer man ist – und nicht, wer man sein will. Führende | |
Politiker der angeblichen Mitte greifen gerade zu einer verräterischen | |
Sprache, statt auf Nüchternheit, Gelassenheit und Menschlichkeit zu setzen. | |
Erdoğan benutze Menschen „als Waffe“ gegen die EU, kritisierte zum Beispiel | |
Österreichs Regierungschef Sebastian Kurz – und sprach über einen „Ansturm | |
von Migranten nach Europa“. | |
Nun kann niemand bestreiten, dass Erdoğan ein zynisches Spiel spielt. Aber | |
Menschen als Waffe? Waffen sind lebensgefährlich, vor ihnen muss man Angst | |
haben. Attentäter könnte man vielleicht so bezeichnen oder Auftragsmörder. | |
Aber ganz sicher nicht Leute, die vor Krieg oder Armut fliehen. So redet | |
wohlgemerkt kein durchgeknallter Rechtspopulist, sondern der Kanzler und | |
ÖVP-Chef unseres Nachbarlandes, der neuerdings mit den Grünen koaliert. | |
Auch in Deutschland wird das Leid der Geflüchteten kaum, umso mehr aber die | |
deutsche Befindlichkeit thematisiert. Spitzenleute von CDU, CSU und FDP | |
warnen unisono vor einem „Kontrollverlust“ wie im Jahr 2015. Ein | |
Kontrollverlust scheint für deutsche Beamtenseelen schwerer erträglich zu | |
sein als die Vorstellung, dass tausende Kinder im Flüchtlingscamp Moria im | |
Dreck sitzen. Nicht anders handeln sie dann auch. Schon ein Kontingent von | |
5.000 Menschen aufzunehmen wird von CDU und CSU als Zumutung empfunden. | |
Überhaupt, wo ist eigentlich dieser Wertkonservatismus – die Betonung liegt | |
auf „Wert“ –, wenn man ihn mal braucht? Ein völlig irrelevantes | |
Linkspartei-Mitglied, das auf einem Strategiekongress bei einem | |
missglückten Versuch, witzig zu sein, davon spricht, Reiche zu erschießen, | |
bringt liberalkonservative Gemüter auf Twitter in Wallung. Aber sehr reale | |
Tränengasgranaten auf Familien, das scheint für dieselben Leute in Ordnung | |
zu sein. | |
## Die Krise geht uns alle an | |
Die aktuelle Krise geht uns alle an. Sie wirft auch ein Schlaglicht auf | |
gängige Verdrängungsmechanismen. Eine große Mehrheit der Deutschen ist | |
geübt darin, das Unschöne unserer komplexer werdenden Welt zu ignorieren. | |
Es ist nicht so, als seien die Zustände in griechischen Flüchtlingslagern | |
unbekannt gewesen. Als sei es neu, dass da Kinder frieren, apathisch vor | |
Zelten hocken oder zwischen Müllbergen spielen. Es hat nur kaum jemanden | |
interessiert, auch von uns Journalisten viel zu wenige. Aber jetzt, da | |
wieder Menschen zu uns kommen könnten, sind wir alarmiert. | |
Und im nächsten Europawahlkampf singen wir dann alle wieder das Loblied auf | |
die EU? Auf den demokratischen Staatenbund, der Frieden und Wohlstand auf | |
dem Kontinent garantiert, als Gegengewicht zu Trump, Putin und dem bösen | |
China? Bitte nicht, die Verlogenheit hat Grenzen. | |
Die Frage ist ja, mit welcher Autorität europäische Staats- und | |
Regierungschefs in Zukunft Trump kritisieren wollen, der eine Mauer an der | |
Grenze zu Mexiko baut – und zur Abschreckung Kleinkinder von ihren Eltern | |
trennen ließ. Europa benimmt sich im Moment ähnlich unanständig. Wie | |
gesagt, in Krisen zeigt sich, wer man ist. | |
6 Mar 2020 | |
## AUTOREN | |
Ulrich Schulte | |
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