# taz.de -- Hamsterkäufe und Corona: Das dünne Eis der Zivilisation | |
> Kaum passiert Ungewohntes, schaltet der Mensch auf Hamstermodus und | |
> Herdentrieb. Irrational ist das, vielleicht nutzlos – aber es hat | |
> Tradition. | |
Bild: Hamstern ist die Grundlage der Zivilisation | |
Das war vielleicht ein bisschen voreilig: Nach Mauerfall und Ende des | |
Kalten Kriegs löste Berlin 1990 die sogenannte Senatsreserve auf. Immerhin | |
gut vierzig Jahre lang hatte die Stadt genug Lebensmittel und Brennstoffe | |
eingelagert, um auch im Blockade-Fall ein halbes Jahr „normales Leben“ – | |
was immer das in Berlin auch heißen soll – aufrechtzuerhalten. Um die vier | |
Millionen Tonnen Dauergut wurden auf über 700 Lager verteilt, bis niemand | |
mehr fürchtete, dass der Russe noch kommt. | |
Dafür naht nun ein neuer Feind aus dem ganz fernen Osten. [1][Das | |
Coronavirus SARS-CoV-2 steht vor den Toren der Stadt], aber die | |
Senatsreserve ist leer. Da nehmen die Leute ihr Schicksal eben selbst in | |
die Hand. Leere Regale bei Mehl, Nudeln und natürlich Desinfektionsmitteln, | |
Atemschutz gibt es sowieso nirgends mehr, ein „Comeback für Büchsenbrot | |
dank Coronavirus“, meldet die dpa. „Büchsenbrot? Dann lieber sterben!“, … | |
man nun zu Recht denken, aber die Leute greifen trotzdem zu. | |
30 bis 40 Prozent Umsatzsteigerung meldeten Supermärkte in Berlin und | |
Brandenburg in der vergangenen Woche. Auch der WDR berichtet aus dem | |
virusinfizierten Nordrhein-Westfalen über leergekaufte Regale – und das zu | |
Beginn der Fastenzeit! Da muss schon ordentlich beschwichtigt werden, etwa | |
vom Landesgesundheitsministerium: „Von Hamsterkäufen ist abzuraten, da mit | |
Lebensmittelknappheiten nicht zu rechnen ist.“ Außer vielleicht bei | |
Büchsenbrot. | |
Wohl aber zu rechnen ist offenbar mit anderen Notständen, denn die | |
Sprecherin schiebt gleich hinterher: „Nicht zu empfehlen ist die | |
Bevorratung von Atemmasken, Medikamenten oder Desinfektionsmitteln, da | |
diese dann für andere, wirklich Bedürftige nicht zur Verfügung stehen.“ | |
## Omas Vorratskeller | |
Das Hamstern steht also nicht gerade im besten Ruf. Lange Jahrzehnte war es | |
bei uns vollkommen unnötig, es war etwas für die Opfer der Mangelwirtschaft | |
in der DDR, die halt kaufen mussten, was immer sie zufällig gerade mal | |
bekommen konnten, ganz unabhängig vom akuten Bedarf. Im Westen belustigte | |
man sich derweil über Omas Vorratskeller mit den Einweckgläsern, die | |
ausgereicht hätten, einen langen Kriegswinter zu überstehen. | |
Da wirkt es dann doch verstörend, wenn die Behörden in Heinsberg jetzt | |
plötzlich anordnen, die [2][unter Quarantäne gestellten Kontaktpersonen der | |
Virusopfer] mögen sich bitte Lebensmittel von Verwandten oder Freunden vor | |
die Tür stellen lassen. Wie bitte? Die bringt doch der Pizza-Bote! Jetzt | |
soll man allen Ernstes die Schwiegermutter bitten, einem Spagetti zu | |
kaufen? Immerhin: Wenigstens darf man sie nicht reinlassen. | |
Das Eis der Zivilisation ist dünner, als wir im Alltag denken. Sobald etwas | |
Ungewohntes, nicht sicher Einzuschätzendes passiert, bemerken wir, dass wir | |
nicht wissen, wie lange es uns trägt. Und herrscht nicht überall schon | |
Tauwetter? Wenn alle die Nudelregale stürmen, sichert man sich lieber auch | |
seinen Anteil. Wenn alle mit Atemmasken rumlaufen, wird schon irgendwas | |
dran sein. Entsprechend warnen Ökonomen bereits vor gefährlichem | |
„Herdenverhalten“, das sich angesichts des schockierenden Anblicks leerer | |
Regale immer weiter selbst befeuere. | |
## Funzelfreunde und Spinner | |
[3][Moderne Hamsterkäufe] sind ein Ausdruck dieser Unsicherheiten. Schon | |
bei der letzten Sars-Epidemie wurden hierzulande Medikamente gehortet, | |
obwohl es in Deutschland letztlich nur zu einer Handvoll Fälle kam. Ähnlich | |
bedrohlich erschien vielen das von der EU verordnete Aus für Glühbirnen im | |
Jahr 2012 – noch heute zehren Funzelfreunde von den Vorräten, die sie | |
damals aufgekauft haben. | |
Die Könige des Hamsterns aber sind die Prepper. Als extremistische Spinner | |
verlacht, rüsten sie sich seit Jahren generalstabsmäßig für Tag X, der je | |
nach psychisch-politischer Disposition ausgelöst wird vom nächsten Virus, | |
dem Einschlag eines Kometen, der Landung der Außerirdischen oder einem | |
durch die Umvolkungspläne der Geheimregierung heraufbeschworenen | |
Bürgerkrieg. Um gewappnet zu sein, legen sie sich unterirdische | |
Vorratsräume an und stopfen sie voll mit Survival-Food, Waffen und | |
Brennstoffen. | |
Wem das zu anstrengend ist, der bestellt im spezialisierten Fachhandel | |
gleich die passenden Komplettpakete. Etwa beim Kopp-Verlag („Bücher, die | |
Ihnen die Augen öffnen“) den „Fluchtrucksack mit Regenponcho“, Werbespru… | |
„Jederzeit bereit!“ (wird häufig zusammen gekauft mit „Tactical Foodpack | |
Reis mit Schweinefleisch“ – so ist das Überlebensnotwendigste gesichert, | |
selbst wenn der Moslem das Land übernommen hat). | |
Dabei war das Hamstern – also das Anlegen von Vorräten über den aktuellen | |
Bedarf hinaus – einst höchst rational und letztlich die Grundlage unserer | |
Zivilisation. Der Schritt vom Jäger und Sammler zum sesshaften, | |
Landwirtschaft betreibenden und energieeffiziente Townhouses in die Gegend | |
stellenden Menschen wäre ohne Vorratshaltung undenkbar gewesen. Erst der | |
Kornspeicher ermöglichte das Ausharren an einem Ort auch jenseits von | |
Vegetationsperiode und Erntesaison sowie das Überstehen ungünstiger | |
Jahreszeiten. Selbst Mäuseschöngeist Frederick wäre ohne seine | |
Prepper-Kumpels trotz aller Farben nicht über den Winter gekommen. | |
## Volle Backen | |
Genau deshalb hamstert auch der Hamster. Die putzigen Nager aus der Familie | |
der Wühler leben in Steppengebieten mit harten Wintern. Um die zu | |
überstehen, legen sie Depots an, und weil die Zeit der reifen Ähren kurz | |
ist, müssen die möglichst effizient und zackig befüllt werden. Wenn es also | |
so weit ist, verliert der Hamster keine Zeit mit unnötigem Hin- und | |
Hergerenne, sondern stopft sich mangels Ikea-Taschen die extrem dehnbaren | |
Backen voll, um pro Einholtour so viel wie möglich nach Hause zu schaffen. | |
Genauso machten es auch die Menschen in Deutschland nach dem Zweiten | |
Weltkrieg, als die Versorgung am Boden lag. Sie fuhren mit der Eisenbahn | |
aufs Land, wo Lebensmittel erzeugt wurden, und kehrten voll bepackt in die | |
zerstörten Städte zurück – mit „Hamsterfahrten“ etablierte sich ein ei… | |
Begriff dafür. | |
An die echten Hamster allerdings kam auch die eifrigste Trümmerfrau nicht | |
heran. Ein Feldhamster etwa rafft im Spätsommer rund 5 Kilo Nahrung | |
zusammen. Das ist immerhin das Zehnfache seines eigenen Gewichts. Und er | |
kann gar nicht damit aufhören. Wenn die Umweltbedingungen es zulassen, | |
sammelt er immer weiter – bis zu 50 Kilo in einer Saison sind dokumentiert. | |
Auch andere Tiere schaffen gut was ran. [4][Der Eichelhäher etwa] häuft in | |
einer Saison einen Vorrat von mehreren tausend Eicheln für den Winter an. | |
Sein Verwandter, der Tannenhäher, setzt auf großflächige Verteilung: Er | |
richtet bis zu 10.000 Depots für die von ihm favorisierten Samen der | |
Zirbelkiefer ein. Davon findet der Gedächtniskünstler sogar 80 Prozent | |
wieder – während wir vor dem Verlassen der Wohnung für jeden Hamsterkauf | |
fluchend suchen, wo wir den verdammten Schlüssel hingelegt haben. | |
## Wechselwarme Gleichgültigkeit | |
Gegen die Superhamsterer im Tierreich nehmen sich die Hinweise des | |
Bundesamts für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe bescheiden aus. Die | |
Behörde empfiehlt, einen Vorrat anzulegen, um im Notfall zehn Tage autark | |
über die Runden zu kommen. Neben 4 Kilo Gemüse und Hülsenfrüchten sollen | |
auch 2,5 Kilo Obst und Nüsse, 2,6 Kilo Milch und Milchprodukte, 1,5 Kilo | |
Fisch, Fleisch oder Eier sowie 20 Liter Mineralwasser pro Person | |
eingelagert werden. | |
Was allerdings für einen Vier-Personen-Haushalt bereits ein | |
Hamsterwasservolumen von 80 Litern bedeutet – nebst gut 40 Kilo | |
Lebensmitteln. Man sollte also erwägen, zusätzlich noch Wohnraum zu | |
hamstern. | |
Vielleicht ist das ganze Gehamstere aber auch einfach nur Ausdruck eines | |
evolutionären Irrwegs. Ganz entspannt dösen Python und Krokodil schlechten | |
Zeiten entgegen. Dank ihres Stoffwechsels können sie auch ein, zwei Jahre | |
lang ganz auf Nahrung verzichten und einfach mal Ruhe geben. Vielleicht | |
liegt es ja daran, dass Wechselwarme schon ein paar dutzend Millionen Jahre | |
länger im Geschäft sind als die dauernd hektisch herumsumsenden Warmblüter. | |
Nach so einer Ruheperiode jedenfalls ist draußen garantiert jede Viruswelle | |
längst wieder verklungen. | |
2 Mar 2020 | |
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## AUTOREN | |
Heiko Werning | |
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