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# taz.de -- Erinnerung an ermordeten Boris Nemzow: Der Chor der Aufrechten
> Über 20.000 Menschen kommen zum Gedenkmarsch für den 2015 in Moskau
> erschossenen Oppositionspolitiker. Wladimir Putin verteilt derweil Orden.
Bild: Ein langer Zug von Demonstranten: der Gedenkmarsch am Samstag in Moskau
Moskau taz | Der alljährliche Gedenkmarsch für Boris Nemzow war auch in
diesem Jahr wieder gut besucht. Mehr als 22.000 Menschen nahmen beim ersten
richtigen Winterwetter dieses Jahres in Moskau daran teil. Die Veranstalter
hatten trotz allem jedoch mit etwas mehr Zulauf gerechnet. Je mehr Menschen
auf der Straße sind, so das Kalkül, desto zurückhaltender reagiert der
Kreml.
[1][Boris Nemzow war am 27. Februar vor fünf Jahren] auf der Großen Brücke
über die Moskwa von einem teschetschenischen Mörder rücklings unterhalb der
Kremlmauer und unter defekten Überwachungskameras niedergestreckt worden.
Die Drahtzieher wurden nie ermittelt, [2][nur die gedungenen Mordgehilfen
konnten überführt und 2017 verurteilt] werden.
Nemzow war nicht nur Russlands bekanntester Oppositionär und Gegenspieler
Wladimir Putins. Er hatte vor dem Schwenk in die Opposition in Nischni
Nowgorod das Amt des Gouverneurs bekleidet und später als russischer
Vizepremier unter Präsident Boris Jelzin gearbeitet.
Er war Teil der russischen Nomenklatura gewesen, die Abweichler zwar
bestraft, bis dahin aber nicht aus dem Weg räumen ließ. Trotz allem
herrschte dort noch der Anflug eines Korpsgeistes. Auch diese
Unerbittlichkeit war ein neues Signal damals.
## Kein Vergeben, kein Vergessen
Am Samstag reichte die Masse nicht für ein Zeichen an den Kreml. Es war
eher der Aufruf einer aufrechten Masse, die „niemals vergisst und niemals
vergibt“, wie sie in Sprechchören immer wieder mitteilte.
Unter den Demonstranten waren viele, die forderten, die harten Urteile in
der „Moskauer Sache“ aufzuheben. Im Sommer waren Dutzende Demonstranten
festgenommen und verurteilt worden, weil sie dagegen protestierten, dass
ihre Kandidaten nicht zu den Moskauer Wahlen zugelassen worden waren.
„Russland ohne Putin“ und „Russland wird frei sein“, skandierte die
Marschkolonne aus dem Jahre alten Protestrepertoire. Auch „Putin geh' doch
endlich“, war wie ein Flehen zu vernehmen. Die Stimmung sei aber gelassen
gewesen, meinte der Oppositionelle Ilja Jaschin, ein langjähriger
Wegbegleiter Boris Nemzows. Die Menschen seien nicht mehr verängstigt oder
eingeschüchtert. Sie sind frei, meinte Jaschin.
## Ungeklärter Tathintergrund
Für die Familie und [3][Tochter Janna Nemzowa] ist der eigentliche
Organisator und Drahtzieher Ruslan Geremejew. Der stellvertretende
Kommandeur des Bataillons „Sewer“, in dem auch der Todesschütze Saur
Dadajew diente. Dadajew und Geremejew kannten sich gut. Als Ermittler
Ruslan Geremejew in Tschetschenien nach dem Mord suchten, standen sie vor
verschlossenen Türen und zogen unverrichteter Dinge ab.
Vorgestern verlieh Präsident Wladimir Putin einem Verwandten Ruslans, dem
Clanchef Senator Suleiman Geremejew aus Tschetschenien, den vaterländischen
Verdienstorden. Geremejew soll sich besonders um Gesetzgebung und
Entwicklung des Parlamentarismus verdient gemacht haben, hieß es in der
Laudatio. Georgi Satarow, früherer Leiter der Kremlkanzlei unter Boris
Jelzin, nannte dies am Rande des Gedenkmarsches „ein schamloses und
unflätiges Verhalten“.
Der Kremlchef sendete damit ein deutliches Zeichen, wie wenig ihm an Gesetz
und Rechtsstaatlichkeit gelegen ist. Stattdessen sammelt er seine Kohorten,
um sich für den Rest des Lebens durch die für April geplante
Verfassungsänderung zum Superpräsidenten balsamieren zu lassen.
Mit Ausnahme Präsident Michail Gorbatschows und Boris Jelzins starben
Russlands Herrscher alle im Amt. Eigentlich wollte Putin nicht mit den
Füssen „vorneweg aus dem Kreml getragen werden“, sagte er mehrfach.
Russische Beobachter konnte er davon nicht überzeugen.
## Virusschutz wegen Vermummung verboten
Der Gedenkmarsch verlief friedlich. Auch als Demonstranten einem russischen
TV-Korrespondenten zuriefen: „Er lügt, der Korrespondent“. Der war um keine
Antwort verlegen: „Das ist doch viel unterhaltsamer!“
Anlässlich des kursierenden Coronavirus empfahl die föderale
Verbraucherschutz Behörde das Tragen einer Maske in dem Marschgetümmel. Die
Polizei indes verbot die „Vermummung“ auf der Stelle.
29 Feb 2020
## LINKS
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## AUTOREN
Klaus-Helge Donath
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Pawel Scheremet
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Schwerpunkt Fridays For Future
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