| # taz.de -- Nach der Hamburg-Wahl: Republik mit Bildstörung | |
| > Rot-Grün kann regieren, die AfD steht am Rand: In Hamburg ist die Welt | |
| > noch in Ordnung. Doch die Wahl zeigt auch, wie tief das Land gespalten | |
| > ist. | |
| Bild: Mit einem Ergebnis in den Zwanzigern könnte man den oder die nächste Ka… | |
| Nach Hamburg scheint die Welt wieder in Ordnung zu sein. Eine starke SPD | |
| wird dort mit ebenfalls starken Grünen reden, um vernünftige Politik für | |
| die Stadt zu machen. Es gibt ein stabiles, besonnen wählendes Bürgertum, | |
| staatstragende Parteien und eine an den Rand gedrückte AfD: In Hamburg | |
| funktioniert das alte, westdeutsche Modell des moderierten | |
| Interessenausgleichs noch. Aber wenn man aus Hamburg herauszoomt, von | |
| Michel, Rathaus und Hafen weg und von oben auf die Republik schaut, | |
| verändert sich das Bild. Alles flackert und wird unruhig, wie bei einer | |
| Bildstörung. | |
| Die Wahl in Hamburg ist nämlich auch ein Beleg dafür, dass in diesem Land | |
| komplett verschiedene Lebensrealitäten nebeneinander existieren. Die reiche | |
| Hansestadt an der Elbe und Thüringen, das sind zwei Welten. Sie haben – von | |
| der Amtssprache Deutsch einmal abgesehen – nicht mehr viel miteinander zu | |
| tun, ihre BewohnerInnen blicken verständnislos aufeinander. Und bisher | |
| fehlt die zündende Idee, was sie in Zukunft verbinden könnte. Wer in | |
| Apolda, Birkenfelde oder auch in der sächsischen Provinz lebt, versteht die | |
| Hamburger Verhältnisse nicht und umgekehrt. Der größte Fehler wäre deshalb, | |
| nach Hamburg in den Normalbetrieb zu schalten und die Spaltung, oder | |
| besser: die fortschreitende Verinselung der Republik zu ignorieren. | |
| Dass das Leben in West und Ost, in Städten und auf dem Land sehr | |
| unterschiedlich ist, dass Milieus erodieren und auseinanderdriften, ist | |
| nichts Neues. Neu ist aber, wie ratlos die Politik vor dieser Entwicklung | |
| steht. Das Alte löst sich auf, aber wie das Neue aussieht, weiß keiner. | |
| Hamburg suggeriert eine Scheinstabilität, die sich auf das große Ganze | |
| nicht übertragen lässt. | |
| ## Intellektuelles Vakuum | |
| Besorgniserregend ist zum Beispiel, dass [1][die CDU] als stabilisierende | |
| Kraft Deutschlands zunehmend ausfällt. [2][In Thüringen] wehrte sich die | |
| Landes-CDU erst mit Händen und Füßen dagegen, Bodo Ramelow zu wählen, den | |
| konservativsten Linken der Welt. Dann weigerte sie sich ebenso verbissen, | |
| die Christdemokratin Christine Lieberknecht zur Ministerpräsidentin zu | |
| machen. Jetzt will sie Ramelow lieber doch ins Amt heben, trifft aber auf | |
| den erbitterten Widerstand der Bundespartei. Verantwortungslos ist eine | |
| vorsichtige Beschreibung für dieses jämmerliche Verhalten. | |
| Die CDU hat sich immer als pragmatische, an der Realität orientierte Partei | |
| verstanden. Wenn es Europa nutzt, wirft sie die Deutsche Mark über Bord. | |
| Wenn ein GAU in Fukushima passiert, schaltet sie Atomkraftwerke ab. Wenn | |
| die Deutschen den Mindestlohn wollen, führt sie ihn eben ein. Was die CDU | |
| in Sachen Thüringen vorführt, ist fortgesetzte Realitätsleugnung. Der | |
| Unvereinbarkeitsbeschluss im Bund, der blind gegenüber regionalen | |
| Besonderheiten ist, macht das Land unregierbar – und andere Länder in | |
| Zukunft vielleicht auch. Doch aus Angst vor dem Tod ist die CDU nicht in | |
| der Lage, ihn zu korrigieren. | |
| In Hessen verlor die CDU 2018 11 Prozentpunkte gegenüber der vorherigen | |
| Wahl, auch in Brandenburg und Sachsen rutschte sie dramatisch ab. In der | |
| westdeutschen Großstadt Hamburg kratzt sie nun an der Einstelligkeit. | |
| Angela Merkels Stärke verdeckte lange, wie leer die CDU ist – und dass sie | |
| unter einem ähnlichen Zerfallsprozess leidet wie die SPD. Der naive Glaube, | |
| ein Friedrich Merz könne die AfD halbieren und die CDU zu alter Größe | |
| führen, ist nur ein weiterer Beleg dieses intellektuellen Vakuums. Die Zeit | |
| der Volkspartei CDU ist ebenso vorbei wie die der Volkspartei SPD. | |
| Für die nächste Bundestagswahl führt das zu einer simplen Erkenntnis: Alle | |
| gehen ins Offene. Es wird die erste Wahl im Bund sein, bei der keine Partei | |
| mit dem Bonus des Amtsinhabers antritt. Es wird die erste sein, bei der ein | |
| Ergebnis in den Zwanzigern reichen könnte, um den oder die Kanzlerin zu | |
| stellen. Und eine, deren Ergebnis allen das Denken jenseits der gewohnten | |
| Leitplanken abverlangen wird. Nichts davon ist gelernt, es könnte die | |
| Beteiligten an ihre Grenzen führen. Das Agieren der CDU in Thüringen und | |
| die Rufe der SPD nach einem Lagerwahlkampf zeigen, wie groß die Sehnsucht | |
| nach dem überschaubaren Gestern ist. | |
| ## Klimaschutz polarisiert | |
| Die Ironie ist, dass [3][die Grünen] im Vergleich wie ein Hort der | |
| Stabilität wirken. Sie geben sich staatstragender als seinerzeit Helmut | |
| Schmidt, sind im Osten und auch anderswo bereit, alle (un)möglichen | |
| Kooperationen einzugehen, und agieren geschlossen wie nie. Nimmermüde | |
| bieten sie sich an, die Rolle der ordnungsgebenden Kraft zu übernehmen. | |
| Parteichef Robert Habeck sagt, dass die Erosion des demokratischen | |
| Zentrums, die man in Thüringen erlebt habe, nicht aus der Welt geschafft | |
| sei. Auftrag der Grünen sei es, Orientierung zu geben – für die „Breite d… | |
| Gesellschaft“. | |
| Nun kann man fast froh sein, dass überhaupt noch eine Partei ungebrochen | |
| Lust aufs Regieren verströmt. Aber was heißt das eigentlich, Orientierung | |
| geben? Habecks Satz hat auch etwas Phrasenhaftes. Er kommt daher wie eine | |
| neue Erkenntnis, beschreibt aber nur das, was seit jeher Aufgabe der | |
| Politik ist. Es bleibt zudem recht vage, wie eigentlich die grüne | |
| Orientierung aussieht. Die Partei verspricht, hohe Vermögen stärker zu | |
| besteuern, sagt aber nicht, wie. Oder sie wirbt für den Abschied von Hartz | |
| IV, spart sich aber die nicht unwichtige Info, wie hoch denn die Regelsätze | |
| sein sollen. Präzise Äußerungen gehören aber zur Orientierung dazu. | |
| Nicht zuletzt ist die große Frage, ob das grüne Megathema Klimaschutz | |
| geeignet ist, versöhnend zu wirken. Oder ob es Gräben nicht vertieft. | |
| Bisher spricht viel dafür, dass Klimaschutz eher polarisiert, weil CDU, | |
| FDP und AfD ihn zur Abgrenzung von den erfolgreichen Grünen nutzen. | |
| Habecks Partei wäre gerne der Fixpunkt, an dem sich die bürgerliche Mitte | |
| orientiert. Ob ihr das gelingt, ist unklar. Auch die Grünen gehen ins | |
| Offene. | |
| 25 Feb 2020 | |
| ## LINKS | |
| [1] /CDU-und-FDP-nach-der-Hamburgwahl/!5664909 | |
| [2] /Thueringen-Wirrwarr/!5664761 | |
| [3] /Buergerschaftswahl-in-Hamburg/!5665665 | |
| ## AUTOREN | |
| Ulrich Schulte | |
| ## TAGS | |
| Hamburg | |
| CDU | |
| Grüne Hamburg | |
| Schwerpunkt AfD | |
| Schwerpunkt Thüringen | |
| Bürgerschaft | |
| Wahl in Hamburg 2025 | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Hamburg nach der Wahl: Die Heuchler | |
| Die AfD ist eine Partei, die zu dem System gehören will, das sie | |
| abzuschaffen vorhat. In Hamburg hat sie 5,3 Prozent der Stimmen bekommen. | |
| Regierungskrise in Thüringen: Ramelow will's wissen | |
| Am Dienstag diskutiert Rot-Rot-Grün die Wahl des Ministerpräsidenten im | |
| März. Die Thüringer CDU sichert weiter Unterstützung zu. | |
| Bürgerschaftswahlen in Hamburg: Danke, Hamburg! | |
| Hamburg zeigt supersympathisch, was wahre Bürgerschaft heißt. Deutschland | |
| sollte sich daran ein Beispiel nehmen. | |
| CDU und FDP nach der Hamburgwahl: Schwarz-gelbes Desaster | |
| CDU und FDP erleben ein Wahldebakel. Nicht zuletzt dank ihres Tabubruchs in | |
| Thüringen können die Liberalen sogar an der Fünfprozenthürde scheitern. |