Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Wer hat Angst vor Shirley Jackson?: Hals über Kopf
> Nachschub für die Autorin des Horrors: Einigermaßen turbulent inszeiniert
> Josephine Decker in „Shirley“ die Begegnung zweier Paare (Encounters).
Bild: Michael Stuhlbarg, Elisabet Moss als Collegeprofessor und Horrorautorin
In Josephine Deckers „Shirley“ wird mancher und manches in die Mangel
genommen. Die etwas biedere Romanvorlage von Susan Scarf Merrell zum
Beispiel, die in mancher Hinsicht verdreht und an vielen Stellen stark
zugespitzt wird. Der Grundriss der Geschichte ist allerdings derselbe
geblieben: Es sind die frühen sechziger Jahre. Ein frisch verheiratetes
Paar, sie schwanger, er frisch promoviert, kommt ins College-Städtchen
Bennington im waldreichen US-Bundesstaat Vermont.
Er, Fred (Logan Lerman), hat eine Stelle als Assistent von Professor
Stanley Hyman (Michael Stuhlbarg) bekommen. Sie, Rose (Odessa Young), kommt
als Ehefrau mit.
Die beiden geraten im friedlichen Bennington unversehens, metaphorisch
gesprochen, in einen Orkan: nämlich ins Haus, in den Haushalt von Hyman und
dessen Ehefrau Shirley Jackson (Elisabeth Moss). Die beiden sind real
existierende, zu ihrer Zeit durchaus prominente Figuren, das junge Paar und
die Emanzipationsgeschichte von Rose dagegen – um die es sich im Roman viel
eindeutiger als im Film handelt –, hat die Autorin der Romanvorlage als
Perspektivfiguren erfunden.
Stanley Hyman ist heute als Literaturtheoretiker ziemlich vergessen,
Shirley Jackson dagegen längst Teil des literarischen Kanons, damals wegen
ihrer Geister- und Horrorsujets so sehr berühmt wie auch berüchtigt. Man
kennt sie vor allem als Autorin der Kurzgeschichte „The Lottery“, 1948 im
New Yorker veröffentlicht, von heftigsten Leserreaktionen, haufenweise
Abokündigungen etwa, begleitet. Sie erzählt von einem amerikanischen Dorf,
das Jahr für Jahr per Los ein Opfer zur rituellen Steinigung auswählt – und
diese dann in der Geschichte tatsächlich vollzieht.
## Die Autorin gilt als Hexe
Jackson ist im überschaubaren Bennington, milde gesagt, nicht beliebt. Der
äußere Anschein, der zählt, ist ihr egal. Sie ist ungepflegt,
übergewichtig, hält das Haus nicht in Ordnung, gilt gar als Hexe, ein
Image, mit dem sie tatsächlich mindestens spielt. Sie hat Depressionen,
hat, als Rose und Fred eintreffen, eine Schreibblockade und das Haus seit
Monaten nicht verlassen. Darum bemüht sich Hyman auch sogleich, Rose, die
eigentlich anderes vorhat, gegen freie Unterkunft als Haushaltshilfe zu
engagieren. Sie wäscht, sie kocht, sie gerät zwischen die Fronten.
Die Beziehung des Ehepaars ist tumultuös: Stanley hat ständig Affären, was
Shirley weiß und unter fortgesetzten Mikro- und Makroaggressionen auch
toleriert. Er verehrt sie als Autorin, begehrt sie als Frau schon lange
nicht mehr, neigt zu verletzenden Ansagen. Nicht nur ihr gegenüber, das
bekommt vor allem Fred zu spüren, als Stanley seine Dissertation und damit
auch ihn vor versammelter Runde geradezu massakriert.
[1][Im Tumult fühlt sich Josephine Decker] ausweislich ihrer bisherigen
Filme völlig zu Hause: Mit beweglicher Kamera, engem Fokus und raschen
Perspektivwechseln wird man in Szenen geworfen, in Raum und Plot gründlich
desorientiert.
Hals über Kopf werden so Rose und Fred bei ihrer Ankunft in Party- und
Bildturbulenzen gestürzt. Mal sind im Weiteren die Strudel der Beziehungen
und der Einstellungen heftig, mal ruhiger, aber nur ganz gelegentlich gibt
es zum Durchatmen Totalen des endlosen Walds. Es kommt zur Annäherung, auch
körperlich, zwischen Shirley und Rose, der Höhepunkt ist dann eine Szene im
Wald, ein gefährlicher Flirt über die Bande womöglich tödlicher Pilze.
## Versiegende Schaffenskräfte sind frisch belebt
Am Ende wird klar, dass sich das ältere Paar, Shirley vor allem, an Fred
und Rose geradezu vampirisch bedient hat. Versiegende Schaffenskräfte sind
frisch belebt, Shirley vollendet den Roman, mit dem sie sich so lange
gequält hat, Stanley liest ihn und verkündet, dass es sich, auch wenn er
natürlich ein paar kritische Anmerkungen hat, um ihr Meisterwerk handelt.
Das Zentrum des Films ist fraglos [2][Elisabeth Moss], die sich in diese
Rolle wirft, als wäre sie dafür geboren. Mit guten oder unlesbaren Mienen
zu bösen Spielen, in unkleidsamen Klamotten, mit herrischer Brille, nicht
normschön, aber oft wie aus Willenskraft attraktiv. Ein Schwerkraftfeld
eigener Art, aus Körper und Geist, ein wilder Attraktor, der den filmischen
und psychischen Raum nach Belieben dominiert, formt und beugt. Der Film ist
gut, wenngleich nicht durchweg auf der Höhe seiner selbst. Elisabeth Moss
macht ihn zum Ereignis.
25 Feb 2020
## LINKS
[1] /Archiv-Suche/!397719&s=Josephine+Decker&SuchRahmen=Print/
[2] /Zweite-Staffel-Top-of-the-Lake-auf-Arte/!5464924
## AUTOREN
Ekkehard Knörer
## TAGS
Schwerpunkt Berlinale
Regisseurin
Autorin
Horror
Emanzipation
Schwerpunkt Berlinale
Horrorfilm
## ARTIKEL ZUM THEMA
Thriller „El prófugo“ auf der Berlinale: Störgeräusche aus dem Körper
Natalia Metas „El prófugo“ ist ein argentinischer Psychothriller. Für die
Hauptfigur verschwimmen Traum, Wirklichkeit und Wahn.
Regisseurin Hausner über Horrorfilm: „Eine Art weiblicher Frankenstein“
Die Regisseurin Jessica Hausner über die Liebe zum Horrorfilm,
Pastellfarben und Mütter mit schlechtem Gewissen in ihrem Film „Little
Joe“.
Schauerromantik-Ausstellung: Als das Böse die Bühne betrat
Von Goya bis Frankenstein: Den Ahnen des Gothic Chic und dem Schrecken der
Erkenntnis gilt eine großartige Schau im Frankfurter Städel.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.