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# taz.de -- Lesung in der Justizvollzugsanstalt: Lebensweisheiten für Häftlin…
> Der Drogerieunternehmer Dirk Roßmann und der Kriminologe Christian
> Pfeiffer haben in der JVA Sehnde aus ihren Büchern gelesen.
Bild: Alte Freunde auf gemeinsamer Mission: Dirk Roßmann und Christian Pfeiffe…
Sehnde taz | An der Außenpforte der Justizvollzugsanstalt Sehnde motzt der
diensthabende Vollzugsbeamte vor sich hin. Hat ihm mal wieder keiner
Bescheid gesagt, typisch. Jetzt muss er neben der normalen Besuchszeit auch
noch Journalisten abfertigen, die Kameras mit rein nehmen wollen. Das geht
doch so alles nicht. Die Beauftragte für Öffentlichkeitsarbeit atmet tief
durch und versucht ein verständnisvolles Lächeln.
Eigentlich eingebrockt hat dem schimpfenden Schließer das Ganze Dirk
Roßmann. Der millionenschwere Drogerieketten-Inhaber hat [1][einen Hang zu
hemdsärmeligen Hilfsaktionen]. Davon berichtet er auch in seiner
Autobiographie „…dann bin ich auf den Baum geklettert! Von Aufstieg, Mut
und Wandel“. Aus genau der möchte er hier heute in der JVA Sehnde lesen.
Weil er sich gedacht hat, das wäre doch mal interessant, wie er später in
der Veranstaltung sagen wird. Und dann hat er seinen guten Freund Christian
angerufen.
Christian Pfeiffer, der bekannte Kriminologe und Ex-Justizminister, kennt
sich hier aus. Und er hat ebenfalls gerade ein Buch geschrieben: „Gegen die
Gewalt. Warum Liebe und Gerechtigkeit unsere besten Waffen sind“, heißt
das. Aus dem soll auch gelesen werden.
Die JVA Sehnde ist die größte und modernste Haftanstalt Niedersachsens. Sie
wurde 2004 in Betrieb genommen und bietet Platz für 534 männliche
Gefangene. Etwas mehr als 30 von ihnen sind zu der Lesung gekommen, wie
Roßmann mit leiser Enttäuschung bemerkt. Dazu kommen noch einmal so viele
Bedienstete und ehrenamtliche Mitglieder des Fördervereins. Sie alle finden
sich in einem Mehrzweck-Veranstaltungsraum ein, in dem sonst auch
Gottesdienste gefeiert werden.
Dass es so wenige Gefangene sind, erklärt Marianne Schmidt vom
Veranstalter-Team damit, dass eben etliche Insassen gar nicht genug Deutsch
könnten, um einer Lesung zu folgen. Bei anderen kollidiere der Termin unter
Umständen mit länger vereinbarten Besuchen oder der festgelegten Freistunde
im Hof, auf die ungern verzichtet wird. Wer teilnehmen will, muss das wie
jede andere Freizeitaktivität auch mit einem Formular beantragen. Dann
wird überprüft, ob es Sicherheitsbedenken gibt.
Die als unbedenklich eingestuften Teilnehmer dürfen sich zuerst ein Kapitel
aus Dirk Roßmanns Biographie anhören. Darin beschreibt er, wie er 1990/91
einen Hilfskonvoi nach Moskau organisiert habe, weil ihn die Medienberichte
über hungernde Menschen im zusammengebrochenen Sowjetreich aufgeschreckt
hätten. Eine ähnliche Aktion hat er schon zwei Jahre zuvor unternommen:
Damals schaffte er haufenweise Spiegel-Ausgaben zu den
Montagsdemonstrationen, weil es ihn ärgerte, dass Neonazis dort
Propagandamaterial verteilten, die Einfuhr von Westmedien aber noch nicht
erlaubt war.
Solche Aktionen sind nicht untypisch für Roßmann, der einerseits eine
[2][gewaltige Unternehmerkarriere hingelegt hat], für die es wohl schon ein
wenig Umsicht braucht – der sich aber auch gern inszeniert als impulsiver
Bauchmensch, der „einfach mal macht“, ohne sich mit allzu vielen
Vorkenntnissen zu belasten.
So ist er ganz offensichtlich auch in diese JVA gestolpert: Er habe ja gar
nicht gewusst, sagt er in der Fragerunde mit dem Publikum, dass es hier so
viele Betriebe und Werkstätten gebe. Und dass die Gefangenen tatsächlich
acht Stunden am Tag arbeiten müssten. Da hätte er ja gleich mal gefragt,
was man da so verdient – und gelernt, dass das ja nicht viel sei. Der Rest
geht im bitteren Auflachen der Gefangenen unter.
Ganz so unbeleckt tritt Christian Pfeiffer natürlich nicht auf. Immerhin
hat er schon vor 50 Jahren zum ersten Mal eine JVA betreten, damals als
ehrenamtlicher Bewährungshelfer. Und sowohl [3][in seiner Forschung als
auch in seiner Zeit] als Minister hat er sich immer wieder mit der
Situation in den Haftanstalten befasst.
Heute will er die Quintessenz dieser langen Karriere unter das Volk
bringen. Und die lautet vor allem: Alles ist besser geworden. Weil sich in
der Kindererziehung in den vergangenen Jahren das Prinzip „mehr Liebe,
weniger Hiebe“ durchgesetzt habe. Mit vielen Zahlen versucht er
nachdrücklich zu belegen, dass Gewalt, Kriminalität, Drogenmissbrauch und
Suizidalität rückläufig sind, seit man Kinder besser behandelt.
Für Rückschritte hätten [4][allerdings diverse „importierte Macho-Kulturen…
gesorgt,] sagt Pfeiffer. Und zwar sowohl durch die Türken und
Russlanddeutschen früher als auch durch die arabische und afrikanische
Zuwanderung heute. Dagegen helfe nur zweierlei: konsequente Strafverfolgung
und intensive Bildungsangebote.
Die Rede von Liebe, Gerechtigkeit und Bildung löst bei den meisten
Gefangenen eher verlegenes Füßescharren aus. Vor allem als Pfeiffer zum
Abschluss eine persönliche Anekdote erzählt, die ihn selbst zu Tränen
rührt. Wie nämlich der polnische Zwangsarbeiter auf dem Hof seiner Eltern
ihn und seine Geschwister mit hohem persönlichen Einsatz vor den
anrückenden Russen gerettet habe – einfach weil Pfeiffers Mutter den Mann
immer anständig behandelt habe.
## Lieber keine Diskussion über BgH-Zellen
Die Häftlinge diskutieren da lieber andere Fragen: Wie man mit kriminellen
Clans umgehen solle. Oder was Pfeiffer zu den zeitweise katastrophalen
Zuständen im Jugendstrafvollzug in Hameln zu sagen habe. Der stimmt erst
einmal zu und verweist dann auf die Fortschritte, die in beiden Feldern
gemacht würden.
Nur als einer der Gefangenen den Einsatz der „BgH-Zellen“ zu thematisieren
versucht, blockt er ab. In die gepolsterten Zellen ohne Einrichtung und mit
Rundum-Überwachung kommen Häftlinge, die ausrasten oder unter Drogen
stehen. Ja, die habe man ihm gezeigt, sagt Christian Pfeiffer. Und man
habe das Bedauern ausgedrückt, diese so oft nutzen zu müssen. Mehr könne er
dazu nicht sagen, sagt er, als der Gefangene protestieren will. Die
Diskussionszeit ist dann auch vorüber.
6 Feb 2020
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## AUTOREN
Nadine Conti
## TAGS
Gefängnis
Kriminalität
Justiz
Niedersachsen
Christian Pfeiffer
Schwerpunkt Rassismus
Dirk Behrendt
Kriminalität
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