# taz.de -- Ausstellung finnischer Fotokunst: Das Gewicht der Wurzeln | |
> In der Lübecker Kunsthalle St. Annen zeigt die ‚Helsinki School‘ mit der | |
> Schau „Frischer Wind aus dem Norden“, wo ihre Ursprünge liegen. | |
Bild: Die Fotografin Elina Brotherus ist so etwas wie der Star der Helsinki Sch… | |
LÜBECK taz | Ob sich die Geschichte so ereignet hat? Sie klingt jedenfalls | |
gut, gibt auch etwas her und geht folgendermaßen: Der Fotokünstler Mikko | |
Rikala macht eine Aufnahme vom Meer, fertigt davon einen Abzug, geht zu | |
seinem Galeristen und zeigt ihn vor. „Etwas langweilig“, kommentiert der | |
das Bild, der Künstler steckt das Foto in eine seiner Hosentaschen, dann | |
reden die beiden über etwas anderes. | |
Irgendwann später, viel später, entdeckt Rikala das Foto wieder: zerknickt | |
und zerknittert, plattgesessen und verschrammt. Doch zugleich von einer | |
ganz eigenen Ästhetik, einem eigenen Charme getragen. Das anfangs so klar | |
erkennbare Meeresbild hat sich in ein leicht verwaschen wirkendes Exponat | |
verwandelt, auch in ein Bild von einem Bild. Sozusagen mittels | |
Hosenfotokunst. So entsteht nach und nach eine vierteilige Serie gemäß den | |
Jahreszeiten: Je ein Bild einer Landschaft wird durch das Jahr getragen, | |
hin und wieder wird sein Zustand dokumentiert, und man sieht auf ganz | |
eigene Weise, wie die Zeit verstreicht. | |
Zu sehen ist Mikko Rikalas Arbeit „Year in my Pocket“ derzeit in der | |
Kunsthalle St. Annen in Lübeck im Rahmen der Ausstellung „Frischer Wind | |
aus dem Norden. Naturmotive in der Helsinki School“ aus Finnland. Eine | |
Ausstellung, die einerseits in die Breite gehend, vielfältige künstlerische | |
Positionen vorstellt, so dass man staunen kann, was und wen diese Schule | |
alles vereint. | |
Und die andererseits vermittelt, dass die Helsinki School eben keinesfalls | |
allein vom Metier der illustrativen Fotografie, sondern weit mehr vom Genre | |
der auch theoretisch begründbaren Fotokunst getragen wird. Dass sie nämlich | |
entscheidende Wurzeln in der Konzept-Kunst, auch der Minimal-Art und | |
besonders in der Land-Art hat, herausgearbeitet in der amerikanischen Kunst | |
ab den 1960er-Jahren. | |
## Verspielt und zugleich ernst | |
Letzteres kann man gut anhand der Arbeiten von Jaakko Kahilaniemi | |
entdecken, auch dazu gibt es eine Geschichte, die sozusagen den narrativen | |
Background der installativ angelegten Arbeiten des Künstlers bildet: Denn | |
Kahilaniemi entstammt einer Familie von Förstern und erbt einen Wald, | |
hundert Hektar groß. Was damit tun? Ihn sich selbst überlassen, ihn nutzen | |
– oder ihn nicht erst einmal untersuchen, erst einmal fassen was das sind: | |
hundert Hektar? | |
Verspielt und mit zugleich großem Ernst dokumentiert der Künstler in | |
seriellen Arbeiten Fundstücke vom Waldboden, hat auch Setzlinge | |
fotografisch fixiert und katalogisiert. Wenn es sein soll, werden auch mal | |
Baumstücke mit der Küchenwaage „Gunda“ gewogen. Daraus entsteht eine ganz | |
eigene Waldpoesie, ohne dass jemals der Weg in die Abstraktion verbaut ist. | |
Elina Brotherus, so etwas wie der Star der Helsinki School, deren frühere | |
Arbeiten deutliche Einflüsse des Fluxus zeigen, präsentiert Fotografien, | |
die auf Aufgabenstellungen des unlängst verstorbenen Konzeptkünstlers John | |
Baldessari zurückgehen. Etwa: einen Ball in die Luft werfen und versuchen, | |
ihn dann zu fotografieren, wenn er genau in der Bildmitte angekommen ist – | |
was man entsprechend oft wiederholen muss und was auch vom Scheitern als | |
Motor des Ansporns berichtet. Oder: Auf einem Bein stehen und Balance | |
halten, wovon ein Video erzählt. Aufgenommen ist es während eines | |
Gastaufenthaltes auf Föhr, eingeladen war die Künstlerin vom dortigen | |
„Museum Kunst der Westküste“. | |
Natürlich hat auch der Klimawandel längst seine Spuren in den Arbeiten der | |
Helsinki School hinterlassen, etwa in den Arbeiten von Ilkka Halso. Dazu | |
geht es an den Fluss Kitka in Nordfinnland, der an einer Stelle eine | |
markante und imposante Schleife zieht, die landesweit bekannt ist, etwa so | |
wie bei uns der Rhein beim Felsen der Loreley. | |
Das Besondere dieser Stelle ist zudem, dass hier links und rechts des Ufers | |
noch seltene Moose und Flechten wachsen, die es an anderen Orten in | |
Finnland kaum bis nicht mehr gibt. Was wir nicht sehen: Hinter uns, | |
ungefähr da, wo wir beim Betrachten eines wandfüllenden Fotos dieser | |
Flussstelle stehen, ist ein Parkplatz. Für viele und große Reisebusse. Aus | |
denen regelmäßig entsprechend viele Touristen aussteigen, die Richtung des | |
Flusses gehen (um ein Foto zu machen, selbstverständlich) und die dabei | |
über die seltenen Moose und Flechten latschen. | |
Halso fragt: Was nun tun? Er hat seine Flussansicht digital um eine | |
mächtige, gläserne Halle erweitert, die sich über die Szenerie spannt. | |
Sozusagen ein ‚Museum der Natur‘, damit die Natur wenigstens museal bewahrt | |
werden kann. Tiina Itkonen wiederum reist seit Jahren immer wieder nach | |
Grönland, begibt sich an Orte wie Siorapaluk, Qaanaaq oder Kuummiut. Dort | |
fotografiert sie die Häuser der Bewohner, im immer gleichen Ausschnitt, so | |
dass ihre Serien an die Serien der Düsseldorfer Becher-Schule erinnern. | |
Zudem ist sie mit einem amerikanischen Projekt der Beobachtung der | |
Klimaerwärmung auf Grönland verbandelt, in welchem ihre Arbeiten auch den | |
Wandel des Klimas visuell begleiten: Immer seltener zeigen sich die von ihr | |
dokumentierten Häuser eingeschneit. | |
Dazwischen und drumherum gibt es noch viele weitere Positionen zu | |
begutachten, über vier Stockwerke erstreckt sich die Ausstellung, ein | |
Dutzend KünstlerInnen sind vertreten, viel Gutes ist zu entdecken. Manchmal | |
zeigt sich, dass auch ältere Arbeiten verblüffend aktuell werden können – | |
ganz ohne ihr Zutun. | |
So wie die Schwarz-Weiß-Arbeiten von Jorma Puranen, einem der Gründer der | |
Helsinki School. Er hat in den frühen 1990er-Jahren Glasplattenfotos von | |
den Ureinwohnern Skandinaviens, den Samen, entdeckt. Und er hat sie | |
entwickelt, hat die Porträtbilder vorzugsweise an die Orte zurückgebracht, | |
aus denen die Samen seinerzeit vertrieben wurden. Sein Projekt „Imaginary | |
Homecoming“ war damals eine Art symbolisch-visuelle Restitution, dem heute | |
an vielen Orten in Finnland reale Rückgaben gefolgt sind und noch folgen | |
werden. | |
5 Feb 2020 | |
## AUTOREN | |
Frank Keil | |
## TAGS | |
Finnland | |
Fotokunst | |
zeitgenössische Fotografie | |
Helsinki | |
Lübeck | |
Moderne Kunst | |
Fotografie | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Ausstellung „Kunst der Färöer“: Kunst mit Kimm | |
Zum ersten Mal in Deutschland: Das Schifffahrtsmuseum und der Museumsberg | |
in Flensburg präsentieren zeitgenössische Kunst von den Färöern. | |
Ausstellungen norwegischer Fotografie: Kalter Wind, starke Bilder | |
Auf Föhr erzählen die Ausstellungen von Ingun Alette Mæhlum und Kåre | |
Kivijärvi vom Wandel der norwegischen Fotografie. |