# taz.de -- Die Wahrheit: Sprunghaft zum Regenbogen | |
> Sie ist arg verpeilt, aber er ist völlig vernarrt in sie und würde ihr | |
> überall hin folgen – wenn sie nur wüsste, wohin sie überhaupt will … | |
Damals, als die Zukunft noch aus tausend Möglichkeiten bestand und ich noch | |
nicht wusste, was ich aus meinem Leben machen sollte, war ich mit Anna | |
zusammen. Anna konnte morgens mit der Idee aufwachen, die Welt mit | |
feministischen Happenings zu verändern, mittags beschließen, lieber die | |
Goldgräber aus dem Regenwald der Yanomami zu verjagen und abends den Plan | |
fassen, mit der Girlie-Punkband „Voll in die Eier“ durch die Welt zu | |
ziehen. | |
Mir gefiel das, doch sicherheitshalber ließ ich Anna so gut wie nie allein, | |
da ihr sprunghaftes Wesen jederzeit zu unvorhersehbaren Veränderungen in | |
unserem Leben führen konnte. Einmal hatte sie einen jungen Ornithologen mit | |
besonderem Interesse für die Vögel des Polargebiets kennengelernt und sich | |
spontan dazu entschieden, ihn nach Franz-Josef-Land zu begleiten, um dort | |
mit ihm in einem Iglu zu wohnen und Dickschnabellummeneier zu zählen. Am | |
Ende scheiterte das Vorhaben nur daran, dass sie im Chaos ihres Zimmer den | |
Reisepass nicht fand. | |
Nur morgens, wenn ich Brötchen holen ging, ließ ich sie zehn Minuten | |
allein. Dabei war ein gewisses hellseherisches Talent unverzichtbar, da sie | |
zwei Schokocroissants bestellen konnte, hinterher dann aber doch lieber ein | |
Milchweck und eine Laugenbrezel aß. Immerhin war die Gefahr gering, dass in | |
meiner Abwesenheit zufällig ein Ornithologe vorbeikam, der eine junge Frau | |
zum Mitreisen suchte. | |
Einmal beim Frühstück sagte sie: „Nenn mich ab jetzt Bonnie.“ – „Bonn… | |
fragte ich: „Wie Bonnie Tyler?“ – „Genau.“ – „Aber das ist peinli… | |
„Machst du’s oder nicht? Axel würde es tun.“ – „Wer ist Axel?“, st… | |
ich. Aber sie lächelte nur, und ich sagte: „Okayokay!“, denn ich hätte sie | |
auch Wencke oder Gitte genannt, um die Axels dieser Welt von ihr | |
fernzuhalten. | |
Wenig später wurde mir klar, dass es gar nicht um Bonnie Tyler ging, denn | |
sie begann mich Clyde zu nennen. Kurz darauf sagte sie: „Glaubst du, es ist | |
schwierig, eine Bank zu überfallen?“ Mir brach der Schweiß aus. „Anna, ä… | |
Bonnie – es …“, stammelte ich und ging ihr den Rest des Tages aus dem Weg, | |
da ich von allen Möglichkeiten, die die Zukunft bereithielt, am wenigsten | |
scharf auf ein Leben war, das in einem Kugelhagel endete. | |
Als ich am nächsten Morgen vom Bäcker kam, hatten wir Besuch. „Das ist | |
Louise, die neue Nachbarin von gegenüber“, sagte Anna, „gehst du nochmal | |
los und holst zwei Rosinenbrötchen für sie?“ Ich nickte, doch als ich | |
zurückkehrte, waren die beiden fort. Stattdessen fand ich einen Zettel: | |
„Ciao“, stand darauf: „Thelma“. | |
Ein paar Tage später wurde Louise verhaftet. Sie hatte eine Bäckerei | |
überfallen, doch als sie mit dem Geld und zwei Schokocroissants ins Freie | |
stürzte, war der Fluchtwagen verschwunden, da Anna, die im Auto wartete, | |
sich von zwei zufällig vorbeikommenden Ex-Sannyasins hatte bequatschen | |
lassen, mit ihnen zum Ende des Regenbogens zu fahren und dort nach | |
Erleuchtung zu suchen. | |
4 Feb 2020 | |
## AUTOREN | |
Joachim Schulz | |
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