# taz.de -- Streit über Macrons Rentenreform: Macron überzeugt nicht | |
> Im Streit um Frankreichs Rentensystem geht es vor allem um den Kampf | |
> gegen soziale Ungleichheit. Der Widerstand ist dringend notwendig. | |
Bild: Ein Demonstrant zeigte in Maske und Handschellen, wie sehr ihm die geplan… | |
Reform bedeutete früher Fortschritt. Unbemerkt hat sich das ins Gegenteil | |
verkehrt. Wenn die französische Staatsführung [1][Reformen ankündigt], | |
gehen die Gewerkschaften defensiv in Deckung, weil sie mit einer sozialen | |
Regression rechnen. Wer ein bisschen leichtfertig sagt, Frankreich sei | |
wegen seiner widerspenstigen BewohnerInnen schlicht „nicht reformierbar“, | |
übersieht, dass die Menschen aus leidiger Erfahrung gelernt haben. | |
Was Emmanuel Macrons Regierung nun im Namen der „Gleichheit“ und der | |
Abschaffung von „Privilegien“ vorschlägt, würde neue Ungleichheiten und | |
viele Frustrationen schaffen. Die echten Privilegien der Oberschicht aber | |
blieben unangetastet. Ist etwa die Tatsache, dass ein Lokführer wegen | |
seiner häufigen Nachteinsätze und Präsenz an den Wochenenden ab 52 in Rente | |
gehen kann (nicht muss), ein überzeugender Grund, für alle ungeachtet ihrer | |
speziellen Arbeitsbedingungen identische Regeln anzuwenden? | |
Die Demagogie in der Argumentation ist allzu offensichtlich und das | |
pauschale Misstrauen in der Politik zu tief verankert. Die Staatsführung, | |
die in einer Pressemappe mit Fallbeispielen behauptet, von dieser Reform | |
würden „alle“ profitieren, hofft dennoch, dass ihr die Betroffenen aufs | |
Wort glauben, es werde keine Verschlechterungen geben. In Schweden hat die | |
Einführung eines vergleichbaren Punktesystems zur Rentenberechnung dazu | |
geführt, dass sich die Altersarmut verdoppelt hat. | |
Wären nicht doch „französische Verhältnisse besser als deutsche Zustände�… | |
wie Oskar Lafontaine in anderem Kontext sinnierte? Ein europäischer | |
Vergleich von Organisation und Finanzierung der Altersvorsorge erweckt | |
leicht den Eindruck, dass die französischen Erwerbstätigen sich bezüglich | |
Rentenalter und -bezügen selbst mit der geplanten Reform wirklich nicht zu | |
beklagen hätten. | |
Wenige Länder wenden einen derart hohen Anteil ihres Bruttoinlandsprodukts | |
(in Frankreich 14 Prozent) für die Finanzierung des Ruhestands auf, in | |
wenigen Ländern liegt das gesetzliche Rentenalter bisher bei 62, und dass | |
bestimmte Kategorien im öffentlichen Dienst wie der Bahn, der Polizei oder | |
der Metro noch viel früher in den Ruhestand gehen dürfen, war bisher | |
normal. Das ist Teil der „sozialen Errungenschaften“, kein „Privileg“, | |
sondern der Erfolg jahrzehntelanger Kämpfe der Arbeiterbewegung, wie | |
Mutterschaftsurlaub oder Mindestlohn. | |
Warum sollte diese heute diese erkämpften Rechte der neoliberalen | |
Buchhalterlogik der Kostensenkung opfern? Weil die Leute länger leben? Das | |
ist sehr relativ, denn gerade die ArbeiterInnen, die sich am längsten | |
abgerackert haben, um eine Rente zu beziehen, die in etwa der Hälfte des | |
letzten Gehalts entspricht, haben eine kürzere Lebenserwartung. In | |
Wirklichkeit existiert eine soziale Ungleichheit im Alter, und diese würde | |
mit dem geplanten Einheitssystem nur noch verschlimmert. Der frühere | |
konservative Premier François Fillon nimmt kein Blatt vor den Mund: „Das | |
Punktesystem erlaubt in Wirklichkeit nur eines, was aber kein Politiker | |
eingestehen will: jedes Jahr den Wert der Punkte zu senken und damit das | |
Niveau der Renten.“ | |
Dass es den meisten Nachbarn in Spanien, Italien oder Deutschland im | |
Rentnerleben noch schlechter ergeht, weil sie für eine oft viel kleinere | |
Rente länger arbeiten müssen, kann kein Grund für [2][die französischen | |
Gewerkschaften] sein, eine weitere Verschlechterung zu akzeptieren oder bei | |
einem umfassenden Systemwechsel mitzumachen, der sich für fast alle | |
Betroffenen – und namentlich die jüngeren Generationen – unweigerlich | |
negativ auswirken würde. | |
Die Angleichung an ein durchschnittlich tieferes Niveau der sozialen | |
Sicherheit ist kein überzeugendes Argument. Im Gegenteil: Ein erfolgreicher | |
Widerstand gegen den schrittweisen sozialen Abbau in Frankreich ist ein | |
Schritt aus der Spirale des [3][Sozialdumpings in Europa], das jedes Mal | |
mit dem fatalistischen Verweis auf den internationalen Wettbewerb begründet | |
wird. | |
14 Dec 2019 | |
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## AUTOREN | |
Rudolf Balmer | |
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