# taz.de -- Wahl in Großbritannien: Doch keine Drinks for free | |
> Am Wahlabend trinken linke Londoner*innen aus Frust in der Kneipe „Beast | |
> of Brixton“. Im wohlhabenden Kensington gab es eine Überraschung. | |
Bild: Trendy Mittelklasse-Briten im Beast of Brixton | |
London taz | James Duke-Evans war schon immer links. Also hat er, der | |
Kneipenwirt, am Wahlabend bekennende Gegner der konservativen Tories in | |
sein Pub im multikulturellen Südlondoner Stadtteil Brixton eingeladen. Das | |
Beast of Brixton ist voll von weißen, trendy Mittelklasse-Briten, obwohl | |
Brixton historisch das schwarze Viertel Londons ist. Bevor die Wahllokale | |
schließen, dürfen sie wetten – um ein edles Tröpfchen umsonst. Alle wetten | |
auf eine konservative Mehrheit von 15 bis 50 Sitzen. Niemand glaubt an die | |
sozialdemokratische Labour-Partei. | |
Punkt 22 Uhr läuft die gemeinsame Wahlprognose aller Fernsehsender: [1][ein | |
Riesensieg für Boris Johnson], eine Mehrheit von 86 Sitzen. Das Publikum | |
hat sich verschätzt. Statt dass es sich wie geplant mit Wodka und Whisky | |
betrinkt, bricht Verzweiflung aus. | |
James Duke-Evans sagt, er könne jetzt aus Frust trinken, bis er tot | |
umfalle. „Wir Briten sind ein Dildo mit Stacheldraht geworden“, schimpft | |
der Wirt und meint, dass das Land sich und anderen nur Schaden zufüge. | |
„Ich bin verzweifelt“, ergänzt ein Bargast. Eine junge Frau sagt, jetzt | |
komme der Ausverkauf Großbritanniens und seines Gesundheitssystems an die | |
USA. Beide haben Labour gewählt. | |
Richard Rice aus Camberwell ist seit dem Brexit-Referendum Liberaldemokrat | |
und war im Wahlkampf aktiv. „Wir haben Fehler gemacht, am Anfang und am | |
Ende der Kampagne.“ Zum Beispiel die Ansage, man werde im Fall des | |
Wahlsiegs den Brexit-Antrag einfach widerrufen, ohne neues Referendum. | |
Alle im Beast of Brixton sind sich einig: Jetzt braucht Labour eine neue | |
Führung. Und wen? Keir Starmer wird genannt, Labours | |
Brexit-Schattenminister, ehemaligter britischer Generalstaatsanwalt und | |
Abgeordneter in Nordlondon. Der hätte das Zeug, klar und effektiv | |
rüberzukommen, glauben sie. Er behält später sogar seinen Wahlkreis. | |
## Weltuntergangsstimmung ab ein Uhr morgens | |
Im Obergeschoss der Kneipe feiern zufällig die Autor*Innen der South | |
London Writers Group ihre Weihnachtsfeier. Auch unter ihnen gibt es keinen | |
einzigen Konservativen, dafür eine Tiefenanalyse dieser Wahl. „Das Wohl | |
vieler Briten hängt zu sehr an Privatinvestitionen, und das macht viele | |
bezüglich Labour nervös“, sagt ein 50-jähriger Liberaldemokrat. | |
Ein jüngerer Labour-Wähler ist von Corbyn enttäuscht: „Unter meinen linken | |
Freunden konnte ich beobachten, wie sie sich schwertaten mit Corbyn, | |
obwohl sie Labour eigentlich unterstützen. Es geht um seine Unterstützung | |
der IRA, der Hamas und des Iran, und darum, dass er Palästinenser Juden | |
vorzieht. All das geht vollkommen gegen den nationalen Konsens, der immer | |
noch recht patriotisch geprägt ist, mit den Briten als Bollwerk gegen | |
Hitler.“ | |
Ab etwa ein Uhr morgens herrscht Weltuntergangsstimmung in der Kneipe. | |
[2][Der konservative Wahlsieg] wird immer deutlicher. | |
In einem anderen Stadtteil Londons geht es gerade erst los. Im Rathaus des | |
Bezirks Kensington and Chelsea wird eifrig gezählt. Während Brixton | |
zumindest früher der Inbegriff einer armen Einwanderergegend war, ist | |
dieser Westlondoner Bezirk einer der reichsten des Landes, voller | |
Millionäre – und mit einigen Sozialsiedlungen, darunter der mit dem | |
berüchtigten Grenfell Tower, der wenige Tage nach der Wahl 2017 ausgebrannt | |
war. | |
Damals gewann die Labour-Politikerin Emma Dent Coad überraschend den | |
traditionell konservativen Wahlkreis Kensington mit 20 Stimmen Vorsprung. | |
Wie geht es diesmal aus? | |
## Der Wahlleiter muss nochmal zählen | |
Alex Machett, 28, er trägt ein rotes T-Shirt der Corbyn-unterstützenden | |
Bewegung Momentum, ist guter Dinge. Er sagt, Labour habe sich verändert. | |
„Der Schwerpunkt der Partei hat sich auf die urbanen Gegenden verlagert, wo | |
junge Unterstützer hinter uns stehen.“ Aber auch er kennt das landesweite | |
Ergebnis. Corbyn werde wohl gehen müssen, gesteht er, obwohl Leute wie er | |
nur wegen Corbyn zu Labour stießen. | |
Im Raum neben der Auszählung sitzt Yvette Williams von der Kampagne Justice | |
for Grenfell, zusammen mit einigen Überlebenden des Hochhausbrands, in dem | |
72 Menschen umkamen. Einige der Überlebenden sagen, dass sie den | |
Konservativen nicht trauen wegen der Art und Weise, wie sie auf den Brand | |
reagiert haben. Williams trägt sogar einen Labour-Anstecker an diesem | |
Abend. Was Kensington betreffe, sei sie zuversichtlich. | |
Gegen drei Uhr in der Früh kommt Bewegung in die Auszählung. Der Wahlleiter | |
erklärt, der Abstand zwischen den zwei Parteien betrage nur 150 Stimmen. | |
Man werde zur Sicherheit noch mal zählen. Eine Stunde später ist es dann so | |
weit. Als alle Kandidat*innen zur Ergebnisverkündung auf der Bühne stehen, | |
fehlt die Labour-Kandidatin Emma Dent Coad. Etwa fünf Minuten später | |
erscheint sie, spontaner Applaus. Dent Coad hebt ihre Arme – kennt sie das | |
Ergebnis schon? | |
Dann aber liest der Wahlleiter die Zahlen vor. Felicity Buchan, | |
Konservative: 16.768 Stimmen. Emma Dent Coad, Labour: 16.618 Stimmen. | |
„Ich danke meinem hervorragenden Team und allen, die an mich geglaubt | |
haben“, beginnt Buchan. Die konservative Siegerin betont, sie sei für alle | |
in Kensington da, um sie zusammenzubringen. | |
Auch die unterlegene Dent Coad kommt zu Wort. „Lasst uns hoffen, dass | |
Anständigkeit und Ehrlichkeit weiter im Amt bleiben.“ Als die Medien | |
endlich Zugang zu den Politikerinnen bekommen, läuft Dent Coad schnell weg. | |
Ein Labour-Mitglied faucht die hinterherlaufenden Journalist*innen, die | |
vier Stunden auf ein Interview gewartet haben, an: „Emma ist krank und kann | |
jetzt kein Interview geben.“ | |
## Jeden Monat gibt es Schweigemärsche | |
Sogar Yvette Williams von der Grenfell-Kampagne ist nicht mehr sehr | |
gesprächsbereit, als sie das Rathaus verlässt. „Wir haben heute einige sehr | |
gute Leute verloren und müssen jetzt einiges neu erwägen“, erklärt sie | |
vollkommen verdutzt und betroffen mit einer Zigarette im Mund. Auch sie ist | |
der Meinung, dass der Wahlkampf der Liberaldemokraten Labour den Sieg | |
genommen habe. | |
„Den Leuten war die Abwehr von Corbyn wichtiger als ihre Remain-Stimme“, | |
sagt der konservative Gemeinderat Greg Hammond. | |
Die neue Abgeordnete Felicity Buchan nennt im Interview mit der taz ihre | |
Prioritäten: Ein Freihandelsabkommen mit der EU, mehr Wohnungen, | |
Investitionen in das Gesundheitssystem und in die Polizei, die Senkung der | |
Kriminalität, den Kampf gegen Luftverschmutzung und die Regeneration der | |
Einkaufsstraße. Und: Konsequenzen aus den Ergebnissen der | |
Grenfell-Untersuchung. | |
Am Samstag wird es in Kensington wieder einen der allmonatlichen | |
Schweigemärsche zu Ehren der 72 Todesopfer geben. Es ist die erste | |
Möglichkeit für Buchan, zu zeigen, dass sie es ernst meint. | |
13 Dec 2019 | |
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## AUTOREN | |
Daniel Zylbersztajn | |
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