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# taz.de -- Die Wahrheit: Orgien der Selbstzerfleischung
> Sechs Punkte, wie es mit der SPD doch noch klappen kann. Das sehr
> persönliche Motivationsschreiben eines kritischen Freundes der Partei.
Die SPD begleitet mich, seit ich denken kann. Wie auch anders? Sie ist ja
seit mehr als zwanzig Jahren praktisch ununterbrochen an der Macht. Man
könnte sagen: Ich und die SPD, wir haben uns aneinander gewöhnt. Haben viel
durchgemacht. Mir gefällt nicht alles, was die SPD macht, umgekehrt bin ich
mit vielen ihrer Handlungen nicht einverstanden. Das ist in Ordnung.
An die meisten Gesetze, die von SPD-Regierungen erlassen wurden, habe ich
mich gehalten – als Nichtmitglied, wohlgemerkt! Noch immer versuche ich,
mir die Namen führender SPD-Politiker zu merken. Wenn Sozis im Fernsehen
auftauchen, unterdrücke ich bewusst den Reflex zum Umschalten. Weil ich
weiß: Hinter jedem Sozi steckt immer auch ein Mensch.
Bei allen Unterschieden im Politischen: Diesen Menschen respektiere ich.
Und weil mir dieser Mensch wichtig ist, ist mir die SPD wichtig. Jetzt, wo
plötzlich sehr viele Konservative ihr Herz für die SPD entdecken, mache
auch ich mir Sorgen. Sorgen um eine SPD, in der Stalinisten wie Saskia
Esken und Norbert Walter-Borjans die Errungenschaften der Großen Koalition
niederreißen könnten. Mein Sieben-Punkte-Fahrplan ist mein ganz
persönliches Angebot an eine Partei, die mir nicht völlig gleichgültig ist.
## Punkt 1: Sich unbedingt von Kevin Kühnert lösen!
Kühnert verkörpert Punk, Anarchie, unklare Verhältnisse. Kevin Kühnert
trägt oft bunte Hemden und hat ein sogenanntes Internetprofil, auf dem er
teilweise stundenlang surft. Wie soll man einem einfachen Kohlearbeiter
unter Tage so etwas erklären? Dort gibt es oft nicht einmal genug
Handyempfang! Zuletzt fiel Kühnert damit auf, dass er Vorschriften für
Vermieter forderte. Viele der einfachen Menschen, mit denen ich jeden Tag
tausendfach spreche, wollen keine Gesetze für Vermieter, sondern lieber
einen alten Schröderianer, der sie nach Strich und Faden über den Tisch
zieht. Mir geht es da ähnlich.
## Punkt 2: Deutschlands große Stärke ist die Industrie!
Bei der SPD fehlte zuletzt ein starkes Bekenntnis zum Industriestandort
Deutschland. Dabei ist Industrie das eiserne Herz, das das Blut durch die
stählernen Adern dieser Nation peitscht! Blut, das aus Autos besteht, die
quasi die roten Blutkörperchen in meinem Gleichnis sind. Wer aber sitzt im
Zellkern? Jedenfalls nicht die SPD! Wann hat man Saskia Esken zuletzt
rußverschmiert an einem Hochofen stehen sehen? Wann hat Walter-Borjans
zuletzt in einem Klärwerk Eimer voller Scheiße durch die Gänge geschleppt?
In meiner Fantasie sind SPD-Mitglieder muskelbepackte, schwitzende
Proletarier, die nach einem Regenschauer plötzlich an meiner Tür stehen und
sich aufwärmen wollen, bei Kakao und romantischer Musik. Wenn ihr das nicht
mehr gelingt, ist die SPD nicht mehr wert, dass sie existiert.
## Punkte 3: Absolut gar keine Experimente!
Die SPD ist in letzter Zeit immer wieder mit Initiativen und Ideen nach
vorne geprescht. Das soll wohl den „Zeitgeist“ bedienen helfen. Das
Ergebnis ist leider eindeutig: Die Wähler wenden sich angewidert von der
Sozialdemokratischen Partei Deutschlands ab, wie in der letzten Szene von
„Gefährliche Liebschaften“, wo die böse Marquise de Merteuil plötzlich g…
allein dasteht. Umgekehrt hat die SPD immer dann gepunktet, wenn sie
einfach gar nichts gemacht hat, die anderen Parteien in Ruhe ihre Arbeit
machen ließ. Die Stammwähler kehrten zurück, die Sonne brach durch die
Wolkendecke, Vögel zwitscherten, muskelbepackte Proletarier klingelten bei
mir zu Hause. Auf die Schnelle kann ich diese These zwar nicht belegen,
dennoch ist die SPD verloren, wenn sie nicht auf mich hört. Der
Experimentalreaktor Kevin Kühnert muss jetzt abgeschaltet werden, sonst
droht die Kernschmelze!
## Punkt 4: Ohne Digitalisierung geht es heutzutage nicht!
Während überall Start-ups aus dem Boden schießen, wo ganze Branchen von
raffinierten Digitalentwicklern disruptet werden und die Bitcoins nur so
auf der Straße liegen, werden in der SPD immer noch zentnerschwere
Aktenordner von Büro zu Büro geschleppt, muss Kevin Kühnert noch persönlich
das Schreibmaschinenband auswechseln und wird die Fraktion komplett
handlungsfähig, wenn das Faxpapier alle ist. Der kleine Arbeiter in seinem
Flözklärwerk hat dafür absolut kein Verständnis! Es muss ein ebenso
schickes wie hippes Digitalkonzept her, mit mehreren Apps, einer eigenen
Website und sämtlichen E-Mail-Adressen von allen SPD-Mitgliedern. Gern bin
ich bereit, mich von der SPD mit einem üppigen Beratervertrag ausstatten zu
lassen, um diesen längst fälligen Schritt ins 20. Jahrhundert gemeinsam zu
verantworten!
## Punkt 5: Ein fester Mut zum Experimentieren und Probieren!
Die SPD ist immer dann am besten gefahren, wenn sie die Chuzpe hatte, auch
mal Dinge auszuprobieren. Ohne immer das Für und Wider abzuwägen, sich in
endlosen Selbstzerfleischungen zu ergehen und sich „Sorgen“ um irgendwelche
„Konsequenzen“ zu machen! Ich erinnere an unbeliebte, aber bitter nötige
Entscheidungen früherer Regierungen. Europas größter Markt für Billigjobs,
endlose Schikanen für Hartz-IV-Bezieher und Unihörsäle, die nach
Markendiscountern benannt sind: Ohne die SPD hätte es das alles vielleicht
auch gegeben, aber nicht so schnell. Wenn man irgendwem eine
Riesenschweinerei verkaufen muss, dann lässt man das doch die SPD machen!
Ich als Schwein fände es irrsinnig schade, wenn ich mich hier nicht mehr
auf „meine“ SPD verlassen könnte!
## Punkt 6: Schluss mit dem sich drehenden Personaltheater!
Wissenschaftliche Studien haben ergeben, dass das menschliche
Kurzzeitgedächtnis sich nur drei bis fünf Dinge gleichzeitig merken kann,
bevor es genervt abschaltet. Allein die Kandidatenliste für den Vorsitz der
Sozialdemokratischen Partei Deutschlands war aber bereits ein Zigfaches
länger! Um kognitive Dissonanz zu vermeiden, wäre es gut, wenn alle
Parteiämter kommissarisch auf Olaf Scholz umgeladen werden könnten, einen
alten Hanseaten von Schrot und Korn, der sich auch durchzusetzen weiß, wenn
die Linken mal wieder nach der Weltherrschaft greifen. Mit Sigmar Gabriel
haben wir Sozis bereits einen wichtigen Kämpfer an die freie Wirtschaft
verloren. Ich sage: Kein Preis ist zu hoch, um dem Olaf noch ein, zwei
Ehrenrunden auf Parteikosten zu spendieren!
Wenn diese meine Ratschläge umgesetzt werden, sehe ich für die SPD eine
Zukunft, in der es mir hervorragend geht. Andernfalls brauchen sich die
Genossen nicht wundern, wenn ich mich künftig in der freien Wirtschaft
umsehe. Ich kann immer nur Angebote machen!
7 Dec 2019
## AUTOREN
Leo Fischer
## TAGS
SPD
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