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# taz.de -- Die Wahrheit: Sie finden … das war … Spitze!
> Seit der legendären TV-Show „Dalli Dalli“ geht es in Deutschland
> spitzenmäßig abwärts und das definitiv quer durch die Bank.
Wer oder was ist heute eigentlich noch „spitze“? Sprechen Sie das Wort doch
einmal laut für sich aus: „spitze!“ Jetzt noch mal, aber so, als würden S…
es meinen. Seien Sie zur Abwechslung auch einmal ehrlich zu sich selbst:
Hat sich das gut angefühlt? War das die Stimme eines Menschen, der sich von
Herzen freut, der mit sich selbst im Reinen ist und unbeeinflusst von den
Stimmen Dritter ein objektives Qualitätsurteil über eine positive
Entwicklung oder Sachlage abgibt?
Wenn Sie diese Frage mit einem „Nein“ beantworten müssen, so spricht das
eindeutig mehrere prachtvoll illustrierte Großbände über den Abstieg einer
Vokabel, die früher wie keine andere unschuldige Freude zu artikulieren
imstande war. Wenn Sie beim Beantworten dieser Frage kurz gezögert haben
übrigens ebenfalls. Falls Sie aber mit „Ja“ geantwortet haben sollten,
machen Sie sich etwas vor, ganz einfach.
Die Wahrheit ist: Die gute alte deutsche Spitzenqualität wird heute
vielfach nicht mehr erreicht. Durchwegs fast alle Branchen sind betroffen.
Mitten in deutschen Großstädten bricht tagsüber der Handy-Empfang weg, weil
mehr als zehn Personen an einer Bushaltestelle stehen. Supermärkte halten
neuerdings nur vier Sorten Kresse vorrätig, davon zwei nicht vegan. Im
Pferdefleisch finden sich immer wieder Spuren von Lasagne. Deutsche Waffen,
einmal im Ausland hochgeschätzt, gelten heute als so gefährlich, dass
größere Ansammlungen davon in Privathand zum Anlass polizeilicher
Ermittlungen werden.
## Miese Infrastruktur
Straßen und Autobahnen verfallen, Brücken werden zu Staub, und wo jetzt
Städte stehen, wird eine Wiese sein, auf der ein Schäfers Kind wird spielen
mit den Herden. 42 Prozent der Deutschen beurteilen die bundesweite
Infrastruktur als „schlecht“, der Rest kann aufgrund von Funklöchern nicht
antworten oder steckt seit vier Stunden im Autobahnkreisel fest, weil sich
ein Schäferskind falsch eingeordnet hat.
Überall bröselt es im Gebälk. Beispiel Köln: Vier Stunden am Tag muss die
Domplatte von sechs Ministranten stabilisiert werden, die sich an
neuralgischen Punkten gegen Strebesäulen lehnen, um ein Abgleiten der
scheußlichen Konstruktion in den Rhein zu vermeiden. In Cuxhaven wurde ein
Kalb mit zwei Köpfen geboren, und in Osnabrück regnet es jetzt wieder
häufiger Blut.
„Das Land ist weit davon entfernt, spitze zu sein“, sagt Henri Bertelsmann,
Geschäftsführer der Bertelsmann Meinungsmache GmbH. Als Schwippcousin
zweiten Grades der echten Bertelsmann-Gründer wird der untersetzte
Mittvierziger immer dann eingesetzt, wenn gerade Bedrohungsszenarien
gebraucht werden, ein echtes Bertelsmann-Gutachten aber zu teuer käme.
## Bockwurst aus Rindsersatz
„Man zieht den Hut auf, und er zerreißt, man schlüpft in den Mantel, und er
zerfällt“, sagt der dezent zerlumpte Schlawiner, schnauft wehleidig und
beißt in eine Bockwurst aus Rindsersatz (zweite Wahl). „Wie können wir
Deutsche in der Welt denn weiter auf dicke Hose machen, wenn der
Regierungs-Airbus ständig abstürzt, wenn die Kanzlerin einen Wackelkontakt
hat und auch der Verfassungsschutz die Sicherheit deutscher Nazis nicht
länger garantieren kann? Wir machen uns doch lächerlich!“ Traurig beißt er
in die Wurst; mit einem mächtigen Sprotz ergießt sich ein halber Liter Senf
auf das stark geblähte Hemd des jammernden Demagogen.
Nachdem er sich mit einem Zitronentüchlein den Senf von der Stirn getupft
hat, wird Bertelsmann politisch, verweist auf die Debatte um die Nachfolge
des Kommissionspräsidenten der Europäischen Union: „Die CDU hat doch
überhaupt keine Spitzenleute mehr, sondern nur mehr seltsam verdrehte
Kinder in Anzügen, wie Philipp Amthor oder Jens Spahn. Diese Art
Klonkrieger wird vom Feind, ich meine: von unseren europäischen Partnern,
doch sofort durchschaut!“ Die Kampagne für Ursula von der Leyen habe das
überdeutlich gemacht: „Natürlich, sie können versuchen, Sympathien für von
der Leyen zu erzeugen. Aber sie können auch Werbung dafür machen, Kinder
absichtlich mit Tetanus zu infizieren. Irgendwann platzt die Blase“, keucht
Bertelsmann und fächelt sich mit der Wurstpappe Luft und Senftröpfchen ins
leicht gerötete Antlitz.
„Sehen Sie sich einen typisch deutschen Maschinenbauer an. Schwere
Kindheit, Karohemd, topqualifiziert, diverses selbst gebautes Sexspielzeug
im Keller. Aber in Deutschland wird er gezwungen, jeden Morgen seine
Anwesenheit in eine Excel-Liste einzutragen! Unter Office 2010!“
Bertelsmann schläft vor Zorn kurz ein, um dann schnappatmend hochzufahren.
„Kein Wunder, dass solche Leute frustriert sind, immer öfter nach Katar
auswandern. Da können sie als Peitschenschwinger bei irgendwelchen
Sklavenarbeiten richtig viel Geld verdienen! Zurück in Deutschland bleiben
dann die Leute, die es nicht geschafft haben. Der Bodensatz der
Gesellschaft, unnütze Esser, Schmeißfliegen auf unserem Gesicht. Worauf
wollte ich eigentlich hinaus?“
## Leistungsdenken im Keller
Bertelsmann steht mit seinen Ansichten nicht allein, obwohl er schon
wirklich sehr streng riecht. Sprachforscher bestätigen, dass „spitze“ auf
deutschen Schulhöfen immer weniger zu hören sei, weder als Interjektion,
Adjektiv, Präfix noch als Beschreibung des Klöppelhandwerks. „Wenn die
Jugend heute ihre Begeisterung ausdrücken will, sagt sie 'trello’,
'mittelgut’ oder 'örks’“, so Adrian Schulz vom Deutschen Jugenddienst. �…
kommt schon der jungen Generation nach und nach das Leistungsdenken
abhanden.“
Immer mehr Personalplaner haben Schwierigkeiten, Berufsanfänger dazu zu
motivieren, mehr als vierzehn Stunden am Tag zu arbeiten oder drei Jahre
als unbezahlte Praktikanten bei Siemens Steckdosen zusammenzuschrauben. Im
Gegensatz zur Generation der Babyboomer, die noch Kriegstrümmer von den
Veranden ihrer Eigenheime abtragen musste und schon am Monatsende nicht
wusste, wohin sie in Urlaub fahren sollte, ergehe sich die Jugend von heute
in egoistischen, konsumschwachen Hobbys wie Atmen oder Spazierengehen. „Da
braucht sich keiner wundern, wenn jetzt wieder häufiger der Strom
ausfällt“, so Schulz.
Wie kann Deutschland wieder spitze werden? In einem Positionspapier schlug
der Bundesverband der Deutschen Industrie vor Kurzem einen kleinen
Angriffskrieg vor, um der Industrie einen Innovationsschub zu versetzen.
Andere sehen jetzt die Kanzlerin in der Pflicht: Angela Merkel selbst müsse
zusammen mit Fotografen in einem Blaumann einen Bergwerksschacht
hinunterfahren, um junge Leute wieder für die Idee der Lohnarbeit zu
begeistern. Aber selbst solch außergewöhnlichen Maßnahmen brauchen Jahre,
um ihre volle Wirksamkeit zu entfalten. Möglicherweise ist es dann schon
für alles zu spät!
13 Jul 2019
## AUTOREN
Leo Fischer
## TAGS
Innovation
Standort Deutschland
Image
SPD
Norwegen
Ehrenamt
Jung und dumm
Bertelsmann-Studie
Digitalisierung
Schwerpunkt Angela Merkel
Kommunikation
2019
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