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# taz.de -- Die Wahrheit: Mit Masern reden
> Mediation ist das neue Ding. In Kursen können debattenfreudige Teilnehmer
> trefflich lernen, gar keine eigene Meinung mehr zu haben.
„So, einatmen, ausatmen, das Argument langsam kommen lassen – und jetzt:
A-b-w-i-e-g-e-l-n! A-b-w-i-e-g-e-l-n! A-b-w-i-e-g-e-l-n“
Es ist später Nachmittag im Mediationsstudio von Lasse Strobl (27). Vor
ihm: eine Gruppe verschwitzter Mittdreißiger in Strampelanzügen, die
ineinander verknäult auf Isomatten liegen. Gerade berät er zwei ziemlich
verärgert aussehende Industriewirte, die sich in verschiedene
Interpretationen der Schornsteinfegergemeindeverordnung verrannt haben.
Während Serkan D. bereits erfolgreich von seinen überzogenen Ansprüchen
zurücktreten konnte, will Oliver N. immer noch auf Teufel komm raus Recht
behalten.
„Herr N., wir haben das doch besprochen. Fokussieren Sie Ihren inneren
Heiner Geißler!“ Der störrische Patient holt tief Luft, will zu einer
gepfefferten Replik ansetzen – und bietet dann spontan an, die Diskussion
zu vertagen. Die Mediationsgruppe klatscht überrascht Applaus.
Mediationsstudios wie das von Lasse Strobl schießen wie Pilze aus dem
Boden: an unzugänglichen, feuchten Stellen, und die meisten von ihnen sind
ungenießbar bis schädlich. Dennoch: Der Trend ist nicht aufzuhalten.
„Früher war Mediation etwas für riesige internationale Firmen oder
Einrichtungen wie die Welthandelsorganisation. Da ging es um
Flugzeugträger, Rohölpreise, Fangquoten. Aber auch die kleinen Leute haben
ein Recht darauf, sich in dubiosen Hinterzimmergesprächen einig zu werden.“
## Verkümmerte Versöhnungshand
Der Grundkurs bei Strobl kostet 750 Euro. Dafür erhält man ein 90-minütiges
Seminar, das lehrt, wie man in Diskussionen auch mal nichts sagt oder
wissend mit den Augen rollt. „Das hilft im Alltag schon unglaublich viel“,
sagt Strobl. Bei vielen Büromenschen seien die fürs Schulterzucken
zuständigen Muskeln verkümmert, ebenso die Versöhnungshand. „Unsere
Vorfahren mussten täglich bis zu einhundert Mal Bedenken wegwischen, wenn
sie überleben wollten“, ergänzt der Mediationstrainer. „Die Anlagen für
diese Fähigkeiten sind bei uns allen da! Sie müssen nur aktiviert werden.“
Olaf S. ist schon seit zwei Jahren bei Strobl: „Seit ich täglich mediiere,
geht es mir einfach so viel besser!“ Der Trainer wackelt neckisch mit dem
Zeigefinger. „O je, war das ein zu forderndes Statement? Sorry, ich hätte
das prozeduraler formulieren müssen, um unseren Erwartungsthermostat
herunterzudimmen.“ Er überlegt kurz und setzt noch einmal an: „Seit ich
nahezu täglich meditiere, geht es mir, nach Maßgabe aller an mich bisher
herangetragenen Bedürfnisse, immer noch recht gut, obwohl ich das
Chancenfenster für weitere Zugeständnisse an künftige, bisher unbekannte
Nutzungsarten nicht voreilig schließen möchte.“
## Keine eigenständigen Bedürfnisse
Trainer Strobl klopft ihm anerkennend auf die Schulter. Nach zwei Jahren
Mediationstraining hat Olaf S.. praktisch keine eigenständigen Bedürfnisse
mehr – und bezieht grundsätzlich keine Positionen, die er nicht sofort
wieder preisgeben kann. Sein Nettogehalt ist dadurch um 800 Euro gesunken,
obwohl er zehn Stunden länger arbeitet. „Weil er halt auch von allen
permanent über den Tisch gezogen wird“, sagt Strobl. „Allerdings wird er,
und das ist das neue, jetzt im allseitigen Einvernehmen über den Tisch
gezogen. So kann er nachts auch wieder besser schlafen, vor Erschöpfung.“
Mosaiken aus Pompeji zeigen, dass schon die alten Römer in ihrer Freizeit
mediierten. „Da gibt es ein berühmtes Deckengemälde, das zeigt, wie ein
Gladiator in der Arena farbige Kärtchen mit seinen Erwartungen auf eine
Pinnwand klebt. Ich denke, wir können viel von diesem Gladiator lernen.“
Aus der Bibel bekannt ist die salomonische Mediation, bei der Seminarkönig
Salomon einfach ein Baby unter zwei streitenden Müttern aufteilte – mit dem
Schwert. „Wichtig ist nicht so sehr, dass die Mütter bekamen, was sie
wollten. Sondern, dass sie wollten, was sie bekamen! Und das war bei
Salomon garantiert! Weil er sie ja auch sonst hätte hinrichten können.
Immerhin war er König“, schmunzelt Strobl.
## Wohltuende Leere im Kopf
Das neue Bedürfnis nach Mediation führen Sozialforscher auf die komplexer
werdende Welt mit ihren vielen Konflikten zurück. „Die Meinungen werden
radikaler, die Auseinandersetzungen heftiger“, sagt der Soziologe Floris
Biskamp (Name nicht ausgedacht). „Oder ist das schon zu drastisch
formuliert? Sagen wir so: Vorbehaltlich weiterer Erkenntnisse zu diesem
Thema herrscht die Ansicht vor, dass einige Meinungen – längst nicht alle!
– etwas radikaler werden. Andere sehen das womöglich anders. Aber auch ich
kann mich irren.“
Wer nicht zum teuren Mediationstrainer laufen will, kann auch in der Pause
mediieren – zum Beispiel mit praktischen Apps wie DiscuDream. Hier wird man
per Zufallsgenerator in eine aktuelle Social-Media-Debatte eingeklinkt, wo
man sofort nach Herzenslust mediieren kann. Von „Ich finde deinen Ton nicht
hilfreich“ bis „Ich denke, wir wissen alle zu wenig über dieses Thema“
bietet DiscuDream vorformulierte Mediationshilfen, die in 95 Prozent aller
Konflikte sofort Wirkung zeigen. Studien zeigen: Schon nach 20 Minuten
spüren viele Patienten eine wohltuende Leere im Kopf, die teilweise über
Stunden hinweg anhält.
Lasse Strobl hält diesen privaten Weg in die Mediation für bedenklich: „Wer
sich ungeschützt, ohne Begleitung starken Meinungen aussetzt, etwa aus dem
Kolumnenbereich von Bento, neigt schnell dazu, sie zu übernehmen.“ Lieber
empfiehlt er den Aufbauworkshop Metakommunikation: „Dabei lernen Sie,
selbst extreme Meinungen zuzulassen und Dinge zu dulden, von denen Sie
nicht mal wussten, dass es sie gibt, indem Sie jede Aussage wiederholen und
die Frage 'Habe ich Sie richtig verstanden?’ davorsetzen.“
## Ungeschützte starke Meinungen
Strobl grenzt sich auch ab von gewissenlosen esoterischen Mediationsgurus,
die versprechen, durch geschickte Debattenführung schwere Krankheiten wie
Krebs, Aids oder Aufsässigkeit heilen zu können. „Das ist unseriös“, sagt
Strobl. „Krankheiten sind in ihren Argumentationsmustern derart
eingefahren, dass es schon sehr erfahrene Mediatoren braucht, um überhaupt
mit ihnen ins Gespräch zu kommen. Masern sind zum Beispiel unglaublich
stur, ziehen sich sofort auf Standpunkte wie 'Das haben wir immer schon so
gemacht’ zurück. Autoimmunerkrankungen hingegen wehren alles ab, fühlen
sich sofort in eine Schuldfalle gedrängt und schmeißen dann plötzlich mit
Porzellan.“ Wer mit seiner Krankheit ins Gespräch kommen will, sollte
deswegen viel Zeit und noch mehr Geld mitbringen.
Die meisten Probleme aber lassen sich nicht mit Geld lösen, sondern mit
Gesprächen, so Strobl: „Wenn Sie unsicher sind, ob ihr Mediator der
richtige ist, sollten sie zusammen mit ihm zu einem Supermediator gehen.
Dieser kann die Weisheit verstorbener Mediatoren channeln und auf
verborgene Versöhnungsreserven zurückgreifen, von denen Sie selbst noch gar
nichts ahnen.“
Wichtig sei auch hier, möglichst früh mit möglichst vielen Menschen in
Gespräch zu kommen, um den gemeinsamen Nenner so klein wie möglich zu
halten: „Wie in der Homöopathie: Wenn von ihrer Position nichts mehr
nachweisbar ist, ist sie am stärksten!“
13 Apr 2019
## AUTOREN
Leo Fischer
## TAGS
Kommunikation
Social Media
Homöopathie
Ehrenamt
Innovation
Homöopathie
Schwerpunkt Angela Merkel
2019
künstliche Intelligenz
SPD
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