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# taz.de -- Krise im deutschen Eisschnelllauf: Fehde auf dünnem Eis
> Dem deutschen Eisschnelllaufverband geht es schlecht. Streitlustig wollen
> Claudia Pechstein und ihr hemdsärmeliger Partner ihn retten.
Bild: Zumindest zu zweit gut im Teamwork: Claudia Pechstein und Matthias Große
Deutschland war, gerade nach dem Mauerfall, immer ein Land der
Eisschnellläufer. In der Liste der erfolgreichsten Nationen bei
Weltmeisterschaften liegt die Bundesrepublik auf Platz zwei, hinter den
uneinholbaren Niederländern. Die Liste der deutschen Medaillenläufer ist
ziemlich lang. Auf ihr stehen Namen wie Olaf Zinke, Uwe-Jens Mey, Jens
Boden und Patrick Beckert, Nico Ihle, Gunda Niemann-Stirneman und Anni
Friesinger, Sabine Völker, Jenny Wolf, Monique Garbrecht, Heike Warnicke
und Stephanie Beckert. Heute hat die Deutsche Eisschnelllauf-Gemeinschaft,
kurz DESG, [1][eher keine Medaillenläufer mehr.]
Sie hat Probleme.
Nach dem ersten Weltcup in der Saison im weißrussischen Minsk vor einer
Woche verfasste die Presseabteilung des Verbands den etwas resignativen
Satz: „Die deutschen Kufenflitzer“ hätten die „Dominanz der
internationalen Konkurrenz“ anerkennen müssen.
Sie liefen alle hinterher, auch Claudia Pechstein, die nur Platz 14 über
3.000 Meter belegte, aber trotzdem für das beste Resultat sorgte – mit Rang
9 im Massenstartrennen. Pechstein, inzwischen 47 Jahre alt, ist noch in der
Lage, im erweiterten Kreis der Weltspitze mitzuhalten. Sie ist die ewige
Läuferin, sozusagen der personelle Restbestand aus den guten alten Tagen
der DESG, eine Garantin des Erfolgs, die sich gegen den Abwärtstrend
stemmt, dem Verband oft ein Alibi verschafft, ihn aber auch regelmäßig an
die Grenze des Zumutbaren führt.
## Reibung erwünscht
Claudia Pechstein versteht eine Menge von den physikalischen Gesetzen auf
dem Eis, vor allem weiß sie, dass Reibung Hitze erzeugt. Dieses Prinzip ist
wichtig, um auf den Eisschnelllauf-Ovalen, von denen es in der überdachten
Variante drei in Deutschland gibt, auf einem Wasserfilm zu gleiten, aber
auch abseits der Arenen hat Pechstein diese Reibung gebraucht. Seit Jahren
versucht sie, unterstützt von ihrem hemdsärmeligen Lebensgefährten Matthias
Große, ihre Vorstellungen im Verband durchzudrücken.
„Kämpfen lohnt sich“ – dieses Credo vertrat Pechstein, gewandet in ihre
Polizeiuniform, auch in der aktuellen Oberlinrede in Potsdam, ein Termin,
den auch schon Bundeskanzlerin Angela Merkel wahrgenommen hat und der
zeigt, dass die Athletin keineswegs isoliert ist. Und Matthias Große ist
gut vernetzt in der Ostberliner Kommunalpolitik, Unterhaltung und
Unternehmerschaft; zu seinem 50. Geburtstag, den er auf dem [2][Müggelturm]
in Berlin feierte, war neben Dieter „Quaster“ Hertrampf von den Puhdys und
DDR-Schlagersänger Hans-Jürgen Beyer auch Gregor Gysi anwesend sowie der
Chef des Deutschen Olympischen Sportbundes, Alfons Hörmann.
Pechstein, die ihre Welt in Freunde und Feinde scheidet, ist freilich
verschrien als Agentin eigener Interessen. Große hat sie stets motiviert,
Ansprüche so zu formulieren, dass sie von den Adressaten als Angriff auf
die Person verstanden werden mussten. Das ist in dieser Saison nicht
anders. Die Reibungshitze ist beachtlich. Es hat wieder einmal gekracht.
Den Reigen der Nickligkeiten eröffnete der Bundestrainer Erik Bouwman. Er
konnte sich offensichtlich nicht vorstellen, Pechstein in sein Team zu
integrieren. Die Olympionikin kolportiert seitdem genüsslich die Aussage
des Holländers, er habe „keinen Bock“ auf sie gehabt. Pechstein wanderte
also ab zur polnischen Mannschaft, mit der sie seit einigen Wochen
trainiert.
Damit nicht genug.
Vor gut zehn Tagen wurde der zweite Akt in der neuerlichen Pechstein-Posse
gespielt. Die DESG rang sich dazu durch, den in der Szene berüchtigten
[3][Matthias Große nicht mehr als Pechstein-Betreuer zu akkreditieren]. Das
war in der Vergangenheit üblich, aber nachdem Große in Interviews gegen den
Verband geschossen und gleichzeitig seine Absicht verkündet hatte, den
krisengeschüttelten Verband möglicherweise als Präsident zu übernehmen, war
es mit der Großzügigkeit der Funktionäre vorbei.
## Wie eine angeschossene Löwin
Der seit einem Jahr amtierende Sportdirektor Matthias Kulik ließ mitteilen:
„Die teilweise unsachgemäßen und dadurch verbandsschädigenden medialen
Aussagen von Herrn Matthias Große gegen unsere aktuelle leistungssportliche
Verbandsstrategie“ seien „nicht förderlich“. Das saß.
Claudia Pechstein reagierte wie eine angeschossene Löwin und
veröffentlichte auf Facebook einen Brandbrief. Kulik wurde zum Hauptziel
ihrer Attacken. Sie unterstellte ihm, Bundestrainer Bouwman bei dessen
Entscheidung „vielleicht sogar heimlich applaudiert zu haben“. Die
„Herangehensweise des Bundestrainers“ sei für sie ein „nicht zu
verstehender, beschämender Wahnsinn“. In dem Pamphlet bringt sie erneut
ihren Lebensgefährten Große, der in Berlin sein Geld mit
Immobiliengeschäften und der Vermietung von Unterkünften an Asylsuchende
und Obdachlose verdient, als Retter der DESG ins Gespräch.
Matthias Kulik hat mit dieser geharnischten Reaktion gerechnet. Er ist, in
seiner Art, zu kommunizieren, das ganze Gegenteil von Claudia Pechstein.
Kulik formuliert vorsichtig, zurückhaltend und beschwichtigend. „Ich will
nicht, dass sich der Konflikt zuspitzt“, sagt der 35-Jährige, der vor
seinem Job als Sportdirektor „Leistungssportreferent für den Bereich
Shorttrack“ war.
„Ich habe keinen Konflikt mit Claudia selbst, sie ist nach wie vor eine
absolute Leistungsträgerin“, sagt er. „Sie schürt vielleicht den medialen
Konflikt, wenn Sie das so wollen, und man darf sich auch fragen, ob ihre
Art der Kommunikation zielführend ist, aber wir müssen das alles intern
klären. Wir wollen den gemeinschaftlichen Diskurs.“
## Auf Konsenssuche
Öffentlich wolle er nicht auf die Vorwürfe von Pechstein reagieren, auch
über Matthias Große sagt er nur Verbindliches: „Wir werden uns um Gespräche
bemühen, wir haben ihm auch kein Hausverbot oder Sonstiges erteilt, er kann
sich in den Eishallen frei bewegen, allerdings wollen wir im Team Ruhe
haben, gute Bedingungen für alle Sportler und Betreuer.“
Große wird in seiner Bewegungsfreiheit ohnehin nicht eingeschränkt, weil er
wohl eine Akkreditierung für den nun anstehenden Weltcup in Tomaszów
Mazowiecki vom polnischen Verband bekommt. Auf die Frage, ob er, also
Kulik, womöglich Schiss habe vor einem künftigen DESG-Präsidenten Große,
antwortet er: „Überhaupt nicht. Wenn er sich sportpolitisch engagieren will
und einen Mitgliedsverein von sich überzeugt, dann stehen ihm alle Wege
frei, sich einem demokratischen Verfahren zu stellen.“
Es ist nicht ganz klar, ob Kulik die Gegenseite umarmen will, um ihr die
Luft zu nehmen, oder ob er zu diesem Mittel greift, weil er das
Pechstein-Große-Lager schlichtweg für unbesiegbar hält. Er ist jedenfalls
auf Konsenssuche. Denn die Lage ist ernst: Ausgerechnet am Tag des
DESG-Medienseminars, Anfang November, trat Stefanie Teeuwen als
Präsidentin zurück, davor hörte DESG-Vizepräsident Hubert Graf aus
gesundheitlichen Gründen auf. Finanziell wird es für den Verband zunehmend
schwieriger, die Grundversorgung der Athleten abzusichern.
## Nur die Curler sind schlechter
Nach dem Rückzug von Hauptsponsor DKB im Winter 2018 sitzt die DESG
angeblich auf einem Schuldenberg von 400.000 Euro, was Kulik und
Schatzmeister Dieter Wallisch aber dementieren. In dem sogenannten
Potenzialanalyse-System (PotAS) des deutschen Leistungssports, einer Art
Assessment-Center zur Verteilung staatlicher Gelder, rangieren die
Eisschnellläuferinnen in der Sparte Wintersport auf Platz 20 und ihre
männlichen Kollegen auf Platz 24, die Shorttracker sind noch schlechter
eingestuft. Hinter ihnen kommen nur noch die Curler.
Matthias Kulik spricht von einem „Umbruch“, 2022 soll sich der Abstand zur
Weltspitze verringert haben. „Es braucht eine gewisse Zeit“, sagt er. Nicht
nur ihn treibt die Sorge um die Zukunftsfähigkeit des Verbandes um. Andere
Freunde des Eisschnelllaufes haben kürzlich einen offenen Brief an
Redaktionen und Nachrichtenagenturen verschickt. Der Aufruf zum
„Zukunftsgremium: DESG – gemeinsam retten“ ist ein Appell, die Kräfte zu
bündeln, aber auch ein Ausdruck von Panik.
In dem Schreiben, das unter anderen die Athletensprecher Moritz Geisreiter
und Leon Kaufmann-Ludwig unterzeichnet haben, ist davon die Rede, dass die
Außendarstellung des Verbandes „verheerend“ sei. Und weiter: „Wir sind in
tiefer Sorge, dass diese Prozesse in kürzester Zeit das Fortbestehen der
DESG unumkehrbar gefährden.“
Vergeblich versucht man, den Sprecher der Initiative, Rainer Erdmann, einen
Berliner Unternehmer, dessen Sohn im Berliner TSC Schlittschuh läuft, zu
kontaktieren. Shorttrack-Spezialist Kaufmann-Ludwig sagt immerhin: „Es hat
wenig Miteinander gegeben, sondern nur noch ein Gegeneinander, viel
Energie ist in Querelen geflossen, die anderswo gebraucht worden wäre.“ Das
müsse sich schnellstens ändern.
Matthias Kulik sagt: „Wir müssen selbstkritisch sein.“ Wenn es der guten
Sache diene, sei er sogar bereit, sich „ein paar Schüsse einzufangen“. Es
könnte sein, dass Claudia Pechstein das als Ermunterung auffasst.
23 Nov 2019
## LINKS
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## AUTOREN
Markus Völker
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