# taz.de -- Der Schaffner und seine Regeln: Die Verpanzerung | |
> Wir wollten uns mit unserem Niedersachsen-Ticket einen schönen Tag in der | |
> Heide machen. Aber dann kam der Schaffner. | |
Dies ist eine Geschichte darüber, was fest eingepflockt in unserer | |
Gesellschaft steht. Tief verankert im Boden, mit Antennen, die zitternd in | |
die Luft ragen, um alles Abweichende zu erspüren: Es ist das Prinzip. | |
8.37 Uhr. Wir fahren mit dem Zug in Richtung Heide. Raus aus der Stadt. In | |
die Weite. Eine Freundin und ich wollen wandern. Wir freuen uns auf den | |
Tag. Beide haben wir uns gerade ein Niedersachsen-Ticket gekauft, jede eins | |
und kein günstigeres Gruppen-Ticket, weil wir zu verschiedenen Zielen | |
zurückfahren. | |
Nach etwa zwanzig Minuten kommt der Schaffner. „Ungültig“, sagt er, als er | |
auf das Ticket meiner Freundin blickt. „Ungültig“, sagt er zu mir. Wir sind | |
verblüfft: „Aber es ist doch ein Niedersachsen-Ticket.“ „Gilt ab 9 Uhr.�… | |
„Wir haben doch jetzt 9 Uhr.“ „Sie sind um 8.37 Uhr eingestiegen.“ „I… | |
App wird das Ticket für 8.37 Uhr als Möglichkeit angezeigt.“ „Das Ticket | |
gilt erst ab 9 Uhr“, wiederholt er. Um den Schaffner liegt eine | |
Verpanzerung. Eine Härte, an der Erklärungen und Empfindungen abprallen. Er | |
spricht, als hätte er uns gerade bei einem schweren Delikt ertappt. | |
„Dann zahlen wir nach“, sagen wir. „In diesem Zug können Sie nicht | |
nachzahlen“, sagt er scharf. „In diesem Zug kann ich Ihnen nur ein Ticket | |
für 60 Euro ausstellen.“ Der Preis für das Fahren ohne gültige Karte. „Es | |
sind doch nur ein paar Minuten. Wir wussten es nicht.“ Der Schaffner bleibt | |
hart. „Meine Kollegen kommen jetzt und nehmen Ihre Personalien auf.“ Er | |
macht ein Zeichen nach hinten in den Gang. „Kommt ihr hierhin.“ Er hat | |
Recht. Seine Position berechtigt ihn. Wir können nichts tun. | |
Ein jüngerer Schaffner und eine Schaffnerin treten nun zu uns. Fast | |
zeitgleich hält dabei der Zug an der nächsten Station. „Könnten wir nicht | |
einfach aussteigen und draußen das Ticket nachziehen?“ Für einen Moment | |
wird das Gesicht des jüngeren Schaffners weich. Er scheint zu überlegen, zu | |
zweifeln. Dann schaut er prüfend den Gang hinunter zu seinem Kollegen | |
„Nein“, sagt er. „Das kann ich leider nicht.“ Die beiden tippen unsere | |
Personalausweise ab, händigen uns Papiere aus, mit Angaben, wohin wir die | |
60 Euro überweisen müssen. | |
In Buchholz steigen wir planmäßig um. Noch benommen durch das Erlebte | |
stehen wir auf dem Bahnsteig, schauen nicht sofort nach, auf welches Gleis | |
wir für unseren Anschlusszug müssen. Sekunden, die fehlen. Als wir auf das | |
Gleis wechseln, fährt der Zug gerade in dem Moment fort. Der nächste kommt | |
erst in einer Stunde. Die Vorfreude ist jetzt weg. | |
Wir setzen uns ins Bahnhofs-Café. Vor uns auf dem Bildschirm flimmert das | |
Frühstücksfernsehen. „Na toll“, sagt meine Freundin. „Wir wollten wande… | |
und jetzt sitzen wir in Buchholz und schauen Fernsehen.“ Wir müssen lachen. | |
Wie bewegt sich ein Mensch mit seiner kleinen Macht im System? Jede Norm | |
und jede Regel ist eine festgelegte, um das Zusammenleben unserer | |
Gemeinschaft zu sichern. Doch jede Gesetzmäßigkeit ist auch das Produkt | |
einer Zeit, die veränderlich ist. Eine Regel, die heute gilt, kann morgen | |
abgeschafft sein. Was nützt dem Wohl der Gemeinschaft mehr, wenn eine | |
Abweichung ihr nicht schadet? Der Verweis auf das Prinzip oder die | |
Nachsicht mit dem Menschen? | |
Manchmal denke ich, dass bei manchen Menschen hinter der Treue zur Regel | |
auch die Furcht steckt, sich sonst nicht ernst genommen zu fühlen. Dass sie | |
das eigene Dasein verteidigen, nicht den eigentlichen Sinn. Doch vieles | |
funktioniert und sogar besser, wenn wir uns gegenseitig mehr lassen. Wie | |
schön ist das Gefühl, wenn ein Busfahrer noch mal die verschlossene Tür | |
öffnet, jemand ein Auge zudrückt. So viel Kraft wächst aus kleinen Gesten. | |
Schließlich brechen wir zum Wandern auf. Gehen die geplante Route, auch | |
wenn uns der Morgen am Abend einholen wird. Durch unsere Verspätung sind | |
wir noch im Wald, als die Dunkelheit einbricht. Wir laufen durch Zwielicht. | |
Es ist unheimlich, und wunderschön. Ich habe eine Stirnlampe dabei. | |
Wir sind zu zweit. Es kann uns nichts passieren. | |
1 Dec 2019 | |
## AUTOREN | |
Christa Pfafferott | |
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