| # taz.de -- Gebührenfreier Fernverkehr: Apropos Personalmangel | |
| > Es ist anstrengend, ohne Ticket mit dem Zug zu reisen. Mit Geduld und der | |
| > richtigen Strategie ist es machbar. Ein Selbstversuch. | |
| Bild: Gute Reise! | |
| Freitagabend, kurz vor Mitternacht, wirkt der Berliner Hauptbahnhof noch | |
| kälter und menschenfeindlicher, als er eh schon ist. Durch die unwirtliche | |
| Beleuchtung wabern Speckgürtel-Teenies, die sich, obschon bereits jetzt | |
| betrunken, ins Berliner Nachtleben stürzen werden. Für unsere kleine | |
| Reisegruppe beginnt hier die Fahrt zum Auswärtsspiel des Fußballvereins | |
| unserer Herzen nach Freiburg. | |
| Wir steigen in einen roten Doppeldeckerzug Richtung Halle an der Saale. Für | |
| ein Wochenendticket, mit dem maximal fünf Personen für 42 Euro einen Tag | |
| lang alle Regionalzüge der Deutschen Bahn nutzen können, ist es noch zu | |
| früh. Also eben ohne. Einer Diskussion bedarf diese Entscheidung nicht; | |
| allesamt sind wir das ticketlose Reisen gewohnt und zelebrieren es fast | |
| jedes Wochenende. | |
| Ein Fahrkartenkontrolleur ist auf diesem ersten Streckenabschnitt nicht zu | |
| sehen – die Nachtruhe im Kabuff geht wohl vor. Gut für uns. In Halle | |
| angekommen, heißt es Zeit totschlagen, denn die Bummelzüge halten | |
| Nachtruhe. Wir verbringen die Stunden bis zur Morgendämmerung vor einem | |
| Pizza-Lieferservice, der einzigen geöffneten Lokalität im Umkreis des | |
| sogenannten Einkaufsbahnhofs Halle. Mit Bier von der gegenüberliegenden | |
| Tankstelle rüsten wir uns für die strapaziöse Reise. | |
| Um mit Nahverkehrszügen in den äußersten Südwesten vorzustoßen, braucht man | |
| vor allem eines: Geduld. Als wir aus der Saalestadt aufbrechen, liegen noch | |
| elf Stunden Fahrtzeit vor uns. Die weiteren Umsteigepunkte: | |
| Kassel-Wilhelmshöhe, Frankfurt, Mannheim, Karlsruhe und Offenburg. Bis | |
| Freiburg haben wir uns nahezu aller zur Verfügung stehenden Möglichkeiten | |
| bedient, um die Schaffner nicht doch zu hektischen Taten zu verführen, die | |
| für uns im negativen Fall ein Bußgeld wegen Beförderungserschleichung und | |
| einen ungeplanten Halt in irgendeinem Kaff bedeuten würden. | |
| Insbesondere in den frühen Bahnen, mit nur wenigen Reisenden, ist das – | |
| nennen wir es ruhig beim Namen – Schwarzfahren aufwendig. In | |
| Doppelstockzügen entscheiden wir uns meist für einen Platz, von dem wir | |
| erkennen können, auf welcher Ebene der Schaffner im Nachbarabteil zuerst | |
| kontrolliert. Dann laufen wir je nachdem unter oder über ihm in den bereits | |
| kontrollierten nächsten Waggon. Die besondere Schwierigkeit hierbei ist es, | |
| den richtigen Moment abzupassen und beim Wagenwechsel nicht doch die | |
| Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. | |
| Eleganter ist es, andere Fahrgäste nach freien Plätzen auf ihren Wochenend- | |
| oder Ländertickets zu fragen, ganz egal, ob bereits auf dem Bahnsteig oder | |
| verbotenerweise erst im Zug. Das Trampen mit der Bahn funktioniert deutlich | |
| besser als das mühevolle Fahren per Anhalter. Die Erfahrung zeigt: Nicht | |
| nur ältere Damen können dem Charme eines jungen Mannes kaum widerstehen, | |
| der freundlich bis flehend darum bittet, auf dem bereits bezahlten Ticket | |
| eine Weile mitzufahren. Menschen, die mit den günstigen Gruppenkarten | |
| unterwegs sind, ohne selbst eine fünfköpfige Gruppe zu sein, finden sich | |
| fast immer. Nach einer finanziellen Beteiligung fragen nur wenige. Und | |
| natürlich gebietet die Tramperehre, sich darauf niemals einzulassen. | |
| Wer für die freundliche Konversation mit den Mitreisenden nicht gemacht | |
| oder aufgrund des steigenden Alkoholpegels nicht mehr geeignet ist, muss | |
| die Fahrt mit mehr Chuzpe fortsetzen. Sind die Züge gut gefüllt, und das | |
| sind Regionalbahnen in den Tagesstunden meist, kann man bei der Kontrolle | |
| seelenruhig auf ein Ticket von vermeintlichen Bekannten verweisen („Drei | |
| Jungs, kurze Haare, auch auf dem Weg zum Fußball!“), die irgendwo am | |
| anderen Ende des Zuges sitzen. Welcher Schaffner das glauben soll? Die | |
| Erfahrung zeigt: die meisten. Und auch die, die es nicht tun, belassen es | |
| bei der Belehrung, man möge sich doch in der Nähe seines Tickets aufhalten. | |
| Aber wie nur, bei den Menschenmengen? Ähnlich erfolgsversprechend ist es, | |
| unerkannt einzusteigen und in Sekundenschnelle so auszusehen, als reise man | |
| schon ewig mit jenem Zug. | |
| Der Schuhe entledigt, die Sachen verteilt, eine Zeitung vor der Nase oder | |
| ein extrem gelangweilter Blick und niemand erwartet ein „Ja“ auf die Frage, | |
| ob es Neuzugestiegene gegeben habe. Funktioniert auch im ICE, für den man | |
| für die Strecke Berlin–Freiburg und Retour übrigens 282 Euro löhnen muss. | |
| Für tief in die Tasche greifende Kunden sind wir wohl nur Schmarotzer, | |
| unsolidarisch und schuld daran, dass die Preise der Deutschen Bahn Jahr für | |
| Jahr steigen. Mag sein. Doch verkörpern wir nicht auch die Utopie eines | |
| kostenlosen Fernverkehrs? Ist es nicht gerecht, die bereits bezahlten | |
| Plätze auf den Gruppentickets der Mitreisenden auch auszufüllen? Immerhin | |
| sind wir dafür bereit, uns Zeit zu nehmen. Nach der gewohnten | |
| Auswärtsniederlage geht es also zum Freiburger Bahnhof, 16 Stunden später | |
| sind wir zurück in Berlin. Die Bahn hat keinen Cent gesehen. | |
| 24 Aug 2013 | |
| ## AUTOREN | |
| Hugo Control | |
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