Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Methodenstreit über Elektronik: „Conceptronica“ versus Feuille…
> Der britische Poptheoretiker Simon Reynolds stellt in einem Essay fest,
> dass Clubmusik heute oft zu konzeptuell ist – und erntet dafür absurde
> Kritik.
Bild: Alles ganz schön verworren: Holly Herndon
Übersteuerung, Englisch Overdrive, beschreibt beim Autofahren den Vorgang,
im falschen Gang zu viel Gas zu geben und so die Drehzahl des Getriebes
unnötig zu überhöhen. In der Popmusik, die ja von Zuspitzung ausgezeichnet
lebt, kann Übersteuerung wiederum sehr nützlich sein. Aber auch nur dann,
wenn sie nicht zum Selbstzweck gerät. Darauf hat der britische Popkritiker
[1][Simon Reynolds] in einem viel beachteten Essay für das
US-Internetmusikmagazin Pitchfork hingewiesen.
Es heißt „The Rise of Conceptronica“ und untersucht die zunehmende
Theoretisierung und Akademisierung von elektronischer Popmusik der bald zu
Ende gehenden Zehnerjahre. Zuletzt habe sich das etwa in Werken der
US-Künstlerin [2][Holly Herndon] und des britischen Produzenten [3][Lee
Gamble] bemerkbar gemacht, die zwar auf elektronische Dancefloor-Sounds
zurückgreifen, aber deren körperliche Anmutung ausgesiebt haben.
Eine Entwicklung, die Reynolds bedauert, weil er die Beweglichkeit, die
Anonymität und Inklusion von Ravekultur vermisst. Nicht nur das, der Brite
bemängelt auch das Anschmusen an die Closed-Shop-Praktiken der bildenden
Kunst sowie das aufdringliche Künstler:innen-Charisma, wie es sich etwa in
der Inszenierung von Holly Herndon als
Künstliche-Intelligenz-Maschinenstürmerin zeigt.
Durch die zunehmende Fragmentierung von Pop im Internetzeitalter sind
phänomenologische Beobachtungen zur Ausnahme geworden. Kaum noch
Autor:innen, die sich angesichts von Playlisten, Snippets und
Instagram-Bilderflut die Mühe machen, laut über bestimmte Muster in den
rasant sich wandelnden Moden, Stilen und Klangsignaturen nachzudenken.
Das hat Reynolds mit seinem [4][„Conceptronica“-Text] dankenswerterweise
mal wieder getan. Und er provoziert durchaus mit der These, dass man aus
Werken wie „Proto“ von Holly Herndon den Antrag auf staatliche
Kunstförderung heraushören könne. An dem hochtrabenden konzeptuellen
Überbau leide letztendlich die Musik, schreibt Reynolds, die zwar Befreiung
von alten sozialen und gesellschaftliche Fesseln verheiße, dies aber nicht
einlöse, weil sie nicht befreiend klingt.
## Häme, Kulturpessimismus
Dafür setzte es zuletzt Haue. Zuerst von Daniel Gerhardt, der Reynolds bei
Zeit Online geantwortet hat und nun von Arno Raffeiner, der in der Neuen
Zürcher Zeitung nachlegte. „Kulturpessimismus“ (Raffeiner), „Häme“
(Gerhardt), die beiden Berliner Autoren schwingen die großen Keulen,
indirekt attestieren sie ihrem Kollegen gar ein fehlendes Verständnis für
queere Positionen.
Raffeiner möchte angesichts von Reynolds’ Überlegungen lieber weiterhin „…
Theorie tanzen“, während Gerhardt sich in die Behauptung versteigt, er will
überhaupt nicht mehr in Clubs gehen, was dann auch zur absurden Überschrift
wurde: „Früher war mehr los in Clubs“.
Was Reynolds differenziert auseinandernimmt und mit Zitaten aus eigenen
Interviews belegt, wird von den beiden ehemaligen Spex-Redakteuren
reflexhaft und holzschnittartig in Kommentarform zurückgewiesen. Es ist
doch bizarr: In vielen deutschen Großstädten gibt es gute, viel
frequentierte Clubs, in denen intelligente elektronische Musik gespielt
wird.
Um Reynolds’ berechtigte Kritik infrage zu stellen, spielt Arno Raffeiner,
– ausgerechnet in der ultrakonservativen NZZ! –, auch noch die Arschkarte:
alter weißer Mann! Dass nun der Autor mehrerer Grundlagenwerke des modernen
Popdiskurses identitätspolitisch erfasst wird, ist einfach nur lächerlich.
Nach Adam Riese sind Gerhardt und Raffeiner zusammengezählt ohnehin älter
als Simon Reynolds. Zudem wirkt diese Intervention zweier ehemaliger
Spex-Redakteure wie abgesprochen und ist somit eigentlich ein Fall fürs
Bundeskartellamt.
23 Nov 2019
## LINKS
[1] /Simon-Reynolds-ueber-Glamrock/!5367019
[2] /Elektronik--Album-von-Holly-Herndon/!5594773
[3] /Produzent-Lee-Gamble-mit-neuer-Platte/!5581111
[4] https://pitchfork.com/features/article/2010s-rise-of-conceptronica-electron…
## AUTOREN
Julian Weber
## TAGS
Conceptronica
Simon Reynolds
Kritik
Arcade Fire
Schwerpunkt Coronavirus
Schwerpunkt Urheberrecht
Joy Press
Rock'n'Roll
## ARTIKEL ZUM THEMA
Ende der Musikplattform Pitchfork: Eine 0.0 von 10.0-Situation
Pitchfork, eines der wichtigsten Musikmedien der Welt, wird vom
Männermagazin „GQ“ geschluckt. Das Ende des Musikjournalismus ist es zum
Glück nicht.
Pop und Corona: Der Sieg der puren Vernunft
Fortschrittlicher Pop tut sich schwer mit der Coronakrise. Denn rebellische
Gesten sind heute von rechts okkupiert. Versuch einer Einordnung.
Musik und Digitalisierung: Wer kassiert für die Musik?
Beim Berliner Diskurs-Festival „Right the Right“ im Haus der Kulturen der
Welt ging es in Panels, Vorträgen und Konzerten um das Thema Urheberrecht.
Übersetzung eines Popdiskurs-Klassikers: Gepard beim Gehirnklempner
„The Sex Revolts“ ist eine bahnbrechende freudianische Studie über Pop. Das
Buch wurde endlich übersetzt und wird nun auf einer Lesetour vorgestellt.
Simon Reynolds über Glamrock: „Boogie ist das Schlüsselwort“
In seinem Buch „Shock and Awe“ taucht neben David Bowie auch Donald Trump
auf. Simon Reynolds über Rockstars in Drag und den Showcharakter von
Politik.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.