# taz.de -- Nachtleben in Istanbul: Das goldene Zeitalter | |
> Das legendäre Istanbuler Nachtleben gehört der Vergangenheit an. Schuld | |
> daran sind Drogengangs – und der politische Islam. | |
Bild: Früher unbeschwerter: Ein Istanbuler Nachtklub | |
Egal, wen Sie fragen, alle werden übereinstimmen, dass die Neunziger das | |
goldene Zeitalter des Istanbuler Nachtlebens waren. Politisch war das zwar | |
eine schwere Zeit: Jeden Tag explodierten Bomben und unschuldige Menschen | |
starben. Aber trotz des Terrors und des Bürgerkriegs feierten die Menschen | |
in Istanbul weiter. Das Nachtleben war ein riesiger Wirtschaftssektor, der | |
Tausende Menschen beschäftigte. In einer Stadt, die nie schläft, the show | |
must go on. | |
Istanbul hat kein Stadtzentrum wie viele europäische Städte, jedes Viertel | |
hatte seine eigenen Bars. Vor allem Lokale mit Livemusik waren angesagt. | |
Was das angeht, war das Viertel Etiler Avantgarde. Aber auch schon in jenen | |
Tagen war das Herz des Istanbuler Nachtlebens [1][Beyoğlu]. In Beyoğlu war | |
das Angebot damals zweigeteilt. Es gab Hetero-Bars und Gay-Bars. | |
Zu dieser Zeit wurden trans Frauen nicht in den Heteroläden diskriminiert, | |
sondern für gewöhnlich in den Gay-Bars. An der Tür von Gay-Clubs stand: | |
„Kein Eintritt für Transvestiten.“ Die berühmtesten schwulen | |
Schriftsteller, Intellektuellen, Dichter und Künstler der Türkei störten | |
sich nicht daran und amüsierten sich jede Nacht in diesen Clubs. In diesen | |
Gay-Bars, in denen trans Frauen nicht erwünscht waren, zogen sich die | |
berühmten schwulen Männer Frauenkleider an und vergnügten sich mit | |
jungfräulichen Typen. | |
Um die Jahrtausendwende begann sich alles langsam zu ändern. Auf einmal | |
tauchten Gangs auf, die Drogen aus dem Nahen Osten in Istanbul verteilten. | |
In den Bars fing der Drogenhandel an. Ich glaube, die Gangs arbeiteten mit | |
der Istanbuler Polizei zusammen. Nach Einbruch der Dunkelheit konnten wir | |
uns auf den Straßen Beyoğlus jetzt nicht mehr bewegen. An jeder Straßenecke | |
konnte man ausgeraubt werden. | |
## Erst die Gangs, dann der politische Islam | |
Im Jahr 2003 rang die Bar- und Clubszene mit dem Tod. Ein Laden nach dem | |
anderen schloss. Die Nachtschwärmer*innen verwandelten sich in Menschen, | |
die lieber zu Hause vor dem Fernseher saßen. 2005 war das Nachtleben am | |
Ende. Die Gülen-Bewegung, die die Istanbuler Polizei infiltriert hatte, | |
vertrieb die Gangs von den Istanbuler Straßen. | |
Doch es gab eine andere Gefahr, die schlimmer als alles andere war und | |
Istanbul sowie die Türkei Schritt für Schritt ergriff: der politische | |
Islam. Entstanden aus der Zusammenarbeit von AKP und [2][Gülen-Bewegung] | |
erschütterte der politische Islam die Demokratie und das Justizsystem in | |
ihren Grundfesten. | |
Nun wendete sich das Blatt. Die Art Männer, die Rasierwasser benutzte, | |
kamen kaum noch in die Clubs, und an ihrer Stelle zeigten sich komische | |
Männer mit Bärten im neoosmanischem Stil. Das legendäre Istanbuler | |
Nachtleben, das fast jede Nacht eine andere Party bot, gehörte nun der | |
Vergangenheit an. Das Glück, diese Tage erlebt zu haben, wärmt mich heute. | |
Manchmal, wenn ich nachts ein Lied aus jenen Tagen höre, muss ich lächeln. | |
Ich glaube, die glücklichste Zeit für uns Istanbuler*innen waren diese | |
Tage. | |
22 Nov 2019 | |
## LINKS | |
[1] https://gazete.taz.de/article/?article=!5582924 | |
[2] /Tuerkei-geht-gegen-Guelen-Anhaenger-vor/!5566024 | |
## AUTOREN | |
Michelle Demishevich | |
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