# taz.de -- Die Wahrheit: Die Neugier gegenüber dem Fremden | |
> Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung (88): Esel sind sehr | |
> individuell und zugleich genügsame Gruppentiere. | |
Bild: Es ist wahre Liebe: Andile, Esel und Maskottchen der SG Sonnenhof Großas… | |
Ein Engländer, Tierfreund und Kunstsammler, sieht eine Eselin an einer | |
Straße in Peschawar stehen. Sie ist noch sehr klein, hat aber schon Lasten | |
transportiert, die ihren Rücken verletzt haben. Der Engländer möchte ihr | |
helfen, seine Gefährten drängen aber zum Aufbruch, sie wollen weiter – zum | |
Flughafen und nach Hause. Der Engländer beharrt darauf: Die Eselin muss | |
mit! Das geht aber nicht. Dann gehe ich eben zu Fuß mit ihr, sagt er. Und | |
so geschieht es dann auch. | |
Das ist der Inhalt der kleinen Reisegeschichte des Kolumnisten Brian | |
Sewell. Er starb 2015, scheint aber zuvor die Eselin in Peschawar wirklich | |
getroffen zu haben und dann – aber wohl ohne sie – auf dem Landweg über | |
Persien, Türkei, Griechenland, Jugoslawien und Deutschland zurück nach | |
London gereist zu sein. | |
Ich bin einmal mit einer Eselin, einer jugoslawischen, die ich mir für 100 | |
Mark seinerzeit in Verden gekauft hatte, damit mein Pferd nicht so alleine | |
auf der Weide stand, vom Brenner nach Arezzo gegangen und hatte von daher | |
einige Fragen an diese Reise des Engländers, der jedoch nicht zu Fuß ging. | |
Seine kleine Eselin, die er wegen ihrer lange Beine nach der berühmten | |
Balletttänzerin Pawlowa nannte, war noch zu jung, um mehr als fünf Meilen | |
am Tag zu gehen, deswegen fuhr er mit ihr quasi per Anhalter, und das | |
klappte auch, denn im Orient hat man nichts gegen Tiere in Autos, Bussen | |
und Zügen. Im Übrigen blieb die kleine Eselin immer dicht bei ihm und ließ | |
sich mit allem Möglichen füttern. | |
## Panische Pferde, ruhige Esel | |
Mein erwachsener Esel lief vor mir. Sah er was von Interesse, blieb er | |
stehen; er war auch nicht sonderlich anschmiegsam. Die Bemerkungen des | |
Engländers über seine Eselin sind knapp und beziehen sich meist auf | |
Praktisches. In dieser lauten und etwas verrohten Menschenwelt | |
„kommuniziert“ man wenig mit seinem Begleittier, denkt aber die ganze Zeit | |
besorgt um es herum: Wird es zum Beispiel gleich vom entgegenkommenden | |
Laster, dessen Fahrer auch noch idiotischerweise hupt, in Panik versetzt? | |
Sewells Sommergeschichte endet glücklich in London. | |
Im Jahr 2013 erschien ein Sachbuch über Esel. Der Kulturwissenschaftlerin | |
Jutta Person geht es darin vornehmlich um das schlechte „Image“ dieses | |
Huftiers, das vor allem Philosophen und Kulturwissenschaftler verbreiteten, | |
die keine Ahnung hatten. Ihren Vorurteilen über die Tiere – dumm, störrisch | |
– stellt sie ein anderes Eselsbild gegenüber, wobei auch sie sich nicht auf | |
reale Esel einließ. | |
Ich, der meinem Pferd wirklich zugetan war und den Esel nur seinetwegen | |
miternährte, machte im Laufe der Jahre die Erfahrung, dass er mir näher | |
stand als das Pferd, das als Fluchttier leicht in chaotische Panik geriet. | |
Der Esel war viel ruhiger und vor allem neugieriger, schaute unterwegs in | |
jede Kneipe und Hofeinfahrt rein und war fast immer guter Dinge, während | |
das Pferd seinen gewohnten Stall und seine Weide in Norddeutschland zu | |
vermissen schien und im Grunde von einem Grasbüschel zum nächsten trottete. | |
## Sie kam aus Hannover | |
Nur wenn wir uns einem Dorf näherten, schien es von Weitem schon die | |
Anwesenheit von Pferden dort wahrzunehmen, denn es wieherte laut und | |
meistens bekam es auch eine Antwort, woraufhin es für kurze Zeit seinen | |
schlurigen Gang aufgab und eine stolze Hannoveranerstute abgab. Auch mein | |
jugoslawischer Esel war eine Stute und fühlte sich, je näher wir dem | |
Mittelmeer kamen, immer wohler, sie gewann zunehmend Geschmack am | |
Unterwegssein – insofern sie dabei erstmalig wirklich frei war, nur | |
gefühlsmäßig gebunden an ihre kleine Reisegruppe. | |
Der Biologe Cord Riechelmann schreibt: „Esel gedeihen am besten im warmen | |
und trockenen Klima Vorder- und Mittelasiens, im gesamten Mittelmeerraum | |
und in Nordafrika, wo man auch ihren wilden Ursprung suchen kann. In den | |
steinigen Steppen und Gebirgen ihres Herkunftsgebiets ist die Vorsicht | |
überlebenswichtig. Deshalb setzen sie ihre Hufe nur auf den Boden, wenn sie | |
sicher sind, dass er sie trägt. Stehenbleiben, Ohren in alle Richtungen | |
drehen und schnauben – das sind auch Ausdrücke ihrer Individualität. Würden | |
sie sich in solchen Fällen auf andere Esel verlassen, wäre das tödlich.“ | |
Riechelmann meint, Esel haben nachts wenig zu befürchten: „Ihr feiner | |
Geruchssinn und ihr gutes Gehör lassen sie Eindringlinge schnell erkennen. | |
Dann schreien sie schrecklich, fletschen die Zähne, laufen auf den Feind | |
zu, schlagen gezielt mit den Hinterbeinen aus oder beißen kräftig zu. Die | |
Somalistämme in Nordostafrika nutzten sie deshalb besonders Nachts als | |
Viehhirten. Esel gewöhnen sich schnell an andere Tiere, entwickeln sogar so | |
etwas wie Fürsorge.“ | |
## Der Esel ist der bessere Hund | |
Neuerdings wird auch in Deutschland Schäfern, die wegen der zunehmenden | |
Zahl der Wölfe um ihre Schafe fürchten, empfohlen, Esel in ihre Herden | |
aufzunehmen. „Von Natur aus sind hundeartige Tiere seine Feinde“, sagt | |
Schäfer Tino Barth aus Twistringen. Und damit auch Wölfe. Als im November | |
die ersten Schafe in der Nachbarschaft gerissen wurden, habe er sich sofort | |
drei Esel zugelegt – sie sollen seine 200 Schafe verteidigen: „Bisher gab | |
es in meiner Herde nicht einen einzigen Riss. Andernorts in der Region | |
fielen bereits mehr als 40 Schafe den Wölfen zum Opfer.“ | |
Der mit den Eseln bisher zufriedene Schäfer gibt gegenüber seinen Kollegen, | |
die sich lieber scharfe Hunde gegen die Wölfe anschaffen, zu bedenken: „Ein | |
Herdenschutzhund benötigt zusätzlich Fleisch, der Esel läuft mit der Herde | |
einfach nur mit.“ Und anders als ein Hund würde ein Esel Bodenbrüter in | |
Ruhe lassen und eigne sich somit besonders in Naturschutzgebieten. | |
Im Internet findet man meist Nachrichten, in denen der Esel, als Zug- oder | |
Tragetier, das Opfer ist. Besonders im [1][Mittelmeerraum] haben viele Esel | |
etwas [2][Dulderisches]. Als Touristen wecken diese „Nutztiere“ jedenfalls | |
unser Mitleid. Der in Algerien geborene jüdische Philosoph Jacques Derrida | |
empfand dagegen, wenn er Esel sah, „etwas von der Freundlichkeit der Welt. | |
In ihrem Blick sah er keine Feindlichkeit gegen den Fremden, sondern eine | |
gelassene Neugier gegenüber dem, der da kommt“, schreibt Cord Riechelmann. | |
In der Berliner Zeitschrift Tierstudien (1/2012) fragte sich der Dramaturg | |
[3][Maximilian Haas], was das Lachen des Publikums über Tiere auf einer | |
Theaterbühne bedeutet, nachdem er ein Stück aufgeführt hatte, in dem ein | |
Esel die Hauptrolle spielte und eigentlich nur dastand und ins Publikum | |
sah. Es läge in diesem Lachen über den Esel „gleichermaßen eine Quelle der | |
Lust wie ein Gewaltpotenzial“, meinte er. | |
18 Nov 2019 | |
## LINKS | |
[1] https://www.youtube.com/watch?v=A0_W755FE0U | |
[2] https://www.youtube.com/watch?v=J2pjXzpy7rA | |
[3] https://www.academia.edu/37860109/Tiere_auf_der_B%C3%BChne._Eine_%C3%A4sthe… | |
## AUTOREN | |
Helmut Höge | |
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