| # taz.de -- Kurden im Krieg: Zwischen Erdoğan und Assad | |
| > Über 12.000 Menschen sind aus den kurdisch kontrollierten Teilen Syriens | |
| > in den Nordirak geflohen. Ein Besuch im Lager Bardarasch. | |
| Bild: Das Lager Bardarasch im Nordirak im Oktober 2017 | |
| Bardarasch taz | Tamara Badran ist nur zwei Tage älter als der Krieg. Sie | |
| schläft den Schlaf der Neugeborenen in einem rosa Kuschelkissen unter einer | |
| Zeltplane im Flüchtlingslager Bardarasch in der autonomen Kurdenregion im | |
| Nordirak. Das Baby wird nicht einmal wach, als ihre Mutter Gulbin sie auf | |
| ihre Schulter legt. Die Kurdin will sich nicht fotografieren lassen. Eine | |
| Mutter ohne Ehemann habe es in einem Flüchtlingslager nicht leicht, da sei | |
| es besser, keine Aufmerksamkeit zu erregen, murmelt der Übersetzer. | |
| Die Flucht der Mutter und ihres Babys aus Rojava endete auf schwarzem | |
| Stein. Aus dem Kurdischen übersetzt lautet so der Name des nordirakischen | |
| Flüchtlingslagers Bardarasch. Die Berge zwischen Syrien und Irak haben dem | |
| Lager seinen Namen gegeben. Sie erheben sich hinter dem Lager in der | |
| gleißenden Sonne schwarz vor dem blauen Horizont. Der „schwarze Stein“ | |
| liegt wie ein Riegel zwischen der Heimat, der im Kurdischen Rojava | |
| genannten nordsyrischen Föderation, und dem Camp in der autonomen | |
| Kurdenregion im Nordirak. Hinter den Bergen schlängelt sich der Tigris | |
| durch ein Tal. Mitten im Fluss endet der Irak und Syrien beginnt. | |
| Seitdem Anfang Oktober türkische Bomben auf Orte wie Kobani oder Kamischli | |
| fielen, machen sich syrische Kurden auf, um bei den irakischen Kurden | |
| Schutz zu suchen. Es sind laut Angaben des UN-Flüchtlingswerks rund 12.000 | |
| Menschen, die aus Rojava in den Irak geflohen. Über 11.000 sind im Lager | |
| Bardarasch interniert. Sie überqueren aber nicht den Fluss Tigris, sondern | |
| nutzen Schleichwege. Es heißt, die Rojava kontrollierenden | |
| Syrisch-Demokratischen Kräfte (SDF) wollten eine Massenflucht in den Irak | |
| verhindern. Sie ließen niemanden ausreisen aus Angst vor leeren | |
| Ortschaften. Sie könnten von ihren Feinden mit neuen Bewohnern gefüllt | |
| werden. Der türkische Präsident Erdoğan nannte als ein Ziel seiner | |
| Offensive die Ansiedlung von syrischen Flüchtlingen aus der Türkei. | |
| Der Tigris macht südlich des offiziellen Grenzübergangs in Fisch Chabur | |
| eine Biegung. Dann verläuft eine grüne und schwer zu überwachende Grenze | |
| über Land. Die Schmuggler kennen die Schleichwege. Sie zeigen sie den | |
| Flüchtenden aus Rojava für Hunderte von Dollar. Das ist viel Geld für die | |
| Menschen aus dem verarmten Nordosten Syriens. Meist gehen sie nachts den | |
| Weg in den Irak zusammen mit ihren Schmugglern. Tamara Badran überquerte | |
| die Grenze im Dunkeln in den Armen ihrer Mutter Gulbin. Die Schmuggler | |
| sagten Gulbin immer wieder, sie solle das weinende Baby zum Schweigen | |
| bringen. Die Gruppe würde wegen ihr und ihrem schreienden Neugeboren noch | |
| von einer Patrouille der SDF oder der nordirakischen Peschmerga erwischt | |
| werden. Aber am Ende erreichten die Flüchtenden den irakischen Boden, ohne | |
| jemandem mit der Waffe in der Hand in die Arme zu laufen. | |
| Die Schleuser zeigten nach stundenlangem Fußmarsch auf Lichter, erzählt | |
| Gulbin: „Geht da lang, da ist Kurdistan“, sagen sie. Dann verschwanden sie | |
| wieder nach Rojava und ließen die Geflüchteten allein weitermarschieren. | |
| Ihr Kind war gerade zwei Tage alt, als die ersten Bomben auf Kamischli | |
| fielen. Eine Rakete habe gleich am ersten Tag des Krieges, am 9. Oktober, | |
| ein Haus in der Nachbarschaft getroffen. „Unser Haus hat gebebt während der | |
| Explosion“, erinnert sich Gulbin. Der Familienrat traf eine rasche | |
| Entscheidung: Die Mutter, ihr Kind und die übrigen Frauen der Familie | |
| sollten mit einem älteren Onkel in den Irak aufbrechen. Die Männer sollten | |
| in Kamischli bleiben und die Stellung halten. „Wir hatten Angst, dass | |
| Flüchtlinge unser Haus besetzen, wenn wir alle gehen. Vielleicht ist der | |
| Krieg ja auch bald vorbei und wir können zurück“, meint die Mutter. | |
| Schon 2012 sei die Familie aus Syrien in den Irak geflohen, erzählt sie. | |
| Nach einer Zeit in einem Flüchtlingslager haben die Männer in der | |
| nordirakischen Stadt Sulaimanija Arbeit gefunden. Die Familie zog in ein | |
| eigenes Haus. Ob es dieses Mal nicht besser wäre, das endlos umkämpfte | |
| Syrien für immer zu verlassen? Gulbin zögert mit einer Antwort. Ihr sei es | |
| egal, wo Tamara aufwachse, solange dort Frieden herrsche, sagt sie. „Ich | |
| wünsche mir, dass meine Tochter studieren kann. Ich konnte nicht einmal | |
| einen Schulabschluss machen wegen der Kämpfe“, sagt sie. | |
| Eine Traube von Geflüchteten folgt einem Manager des Camps. Er sieht die | |
| Reporter mit gezücktem Notizblock, die ihm Fragen stellen wollen. Aber er | |
| ist umringt von Campbewohnern. Sie lassen nicht von ihm ab. Die Menge folgt | |
| ihm von einer Lagerhalle, in der Männer auf Matratzen auf dem Boden liegen | |
| und an die Decke starren, durch die staubigen Pfade des Camps bis zu einem | |
| Container auf dem Gelände des Lagers. Es dient der Lagerverwaltung als | |
| Büro. Anstatt den Container zu betreten, dreht er im Schritt um, als hätte | |
| er etwas Wichtiges vergessen. Die Reporter laufen ihm und der | |
| Menschentraube hinterher wie ein Gefolge seinem König. | |
| ## Alle wollen das „Papier“ | |
| Sie rufen ihm ihre Fragen zu. Wie viele könnten noch über die Grenze | |
| kommen? Wo bleibe die internationale Hilfe? Der Manager antwortet in zwei | |
| Sätzen, während er weiter seinen Weg geht. Wie viele noch in den Irak | |
| flüchten werden, könne niemand sagen. Und nein, bis auf das UNHCR gebe es | |
| derzeit keine internationale Hilfe, ruft der Manager. Dann ignoriert er die | |
| Journalisten und wendet sich Camp-Bewohnern zu, die ihm weiter folgen. | |
| Vielleicht wollten die Männer und Frauen von dem Manager Auskunft über eine | |
| Frage, die alle Geflüchteten in Bardarasch umzutreiben scheint. In ihren | |
| Gesprächen geht es immer wieder um „das Papier“. Damit meinen sie den | |
| Schein, der zum Aufenthalt im Nordirak berechtigt. Er gestattet es auch, | |
| sich eine Arbeit außerhalb des Lagers zu suchen oder zu Verwandten zu | |
| ziehen, die bereits in der autonomen Kurdenregion leben. | |
| Alle Geflüchteten werden erst einmal vom Asayis, dem Geheimdienst der | |
| autonomen Kurdenregion, überprüft. Die sich selbst verwaltende Kurdenregion | |
| will genau wissen, wem sie Asyl gewährt. Und bevor der Geheimdienst kein | |
| grünes Licht gibt, müssen die Geflüchteten eben in ihren Zelten warten. Da | |
| viele ihre Ersparnisse zum großen Teil für die Schmuggler ausgeben mussten, | |
| wissen sie nicht, wie sie ohne ein Einkommen im Lager über die Runden | |
| kommen sollen. Das Wasser gebe es zwar umsonst, nicht aber das Essen, sagen | |
| Bewohner des Lagers. | |
| Die kurdische Autonomieregion hat eine traurige Routine im Umgang mit | |
| Geflüchteten. In den Jahren musste das Lager Bardarasch immer wieder | |
| öffnen. Ein Krieg folgte dem nächsten. Im Lager erzählen sie, dass hier die | |
| geflohenen Bewohner von Mossul gelebt haben – der „Islamische Staat“ | |
| beherrschte bis zum Sommer 2017 die Stadt. Auch Jesiden, die vor dem IS | |
| geflohen sind, haben hier gelebt. Seit einigen Wochen kommen die syrischen | |
| Kurden an. Keiner weiß, wann der Exodus enden wird. Oder wie groß er noch | |
| wird. Ein Vertreter des Innenministeriums der Autonomen Kurdenregion warnte | |
| Mitte Oktober davor, dass im schlimmsten Fall 250.000 syrische Kurden die | |
| Grenze und die Kontrollen der SDF auf der einen Seite und der | |
| nordirakischen Peschmerga auf der anderen Seite einfach überrennen könnten. | |
| Wer Familie auf der irakischen Seite hat, kann derzeit zumindest hoffen, | |
| dass die Verwandten bei den Behörden der Autonomieregion für ihn bürgen und | |
| ihre Häuser öffnen. Anderen steht eine ungewisse Zukunft bevor. Entlang der | |
| Autobahn von Duhok unweit der irakisch-türkischen Grenze bis Erbil, der | |
| Hauptstadt der Autonomen Kurdenregion, existieren noch andere Lager für | |
| Flüchtlinge aus Syrien. Dort leben rund 230.000 Syrer im Irak. Sie sind | |
| nach dem Beginn des Krieges in Syrien 2011 in das Nachbarland geflohen. Die | |
| Menschen leben in den Camps inzwischen in festen Häusern aus Backstein und | |
| Wellblech. Sie hatten in den vergangenen acht Jahren Zeit, sich auf Dauer | |
| in ihren Lagern einzurichten. | |
| ## Die Flucht kostet 500 Dollar, mal 700 | |
| Sechs junge Kurden aus dem nordsyrischen Kamischli sitzen unter der Plane | |
| eines Zeltes in Bardarasch und rauchen ihre letzten syrischen Zigaretten. | |
| Auch sie reden mit Angst und Sorge von dem „Papier“. Es sei ihnen schon vor | |
| einigen Tagen versprochen worden und lässt immer noch auf sich warten. Ihre | |
| Familien sammelten zu Beginn des Krieges die Ersparnisse zusammen und | |
| schickten die jungen Männer aus Kamischli mit den Schmugglern in den Irak. | |
| 700 Dollar zahlten die einen an die Schleuser. Den anderen nahmen sie 500 | |
| Dollar ab. Warum die Preise innerhalb einer Gruppe unterschiedlich waren, | |
| können die jungen Kurden nicht erklären. „Wenn sie dein Gesicht nicht | |
| mögen, zahlst du eben mehr“, meint einer. | |
| „Uns war klar, egal wie das ausgeht, für uns ist es das Ende“, sagt Khainis | |
| Hussain al Mohammed. Die Türken schickten ihnen loyale syrische Rebellen | |
| als Bodentruppen ins Gefecht nach Nordsyrien. Es sind sunnitische Araber, | |
| die ursprünglich gegen den Machthaber Baschar al-Assad in Damaskus gekämpft | |
| haben und inzwischen auf der Lohnliste Ankaras stehen. Ihr Ruf eilte ihnen | |
| vom zunächst umkämpften Ras al-Ain bis nach Kamischli voraus. Ein Video | |
| kursiert seit der ersten Woche des Krieges in Nordsyrien im Internet. Es | |
| soll arabische Angreifer feixend neben Leichen zeigen. „Wenn wir den | |
| Rebellen in die Hände fallen, halten die uns für SDF-Kämpfer, weil wir | |
| junge Männer sind. Und dann bringen sie uns um“, meint al-Mohammed. | |
| Die andere Sorge, die die jungen Männer Anfang Oktober in die Flucht trieb, | |
| ist seit Mitte Oktober Realität: Die kurdisch dominierte SDF konnte den | |
| Vormarsch der türkischen Streitkräfte nur bremsen, aber nicht aufhalten. | |
| Die Miliz schloss ein Abkommen mit der syrischen Armee des Machthabers | |
| Baschar al-Assad. Die Truppen Assads rückten vor nach Nordsyrien. Nach 2011 | |
| hatten sie das vor allem von Kurden, aber auch aramäischen Christen und | |
| Arabern besiedelte Gebiet kampflos verlassen, um ihre Kräfte zum Kampf | |
| gegen die syrischen Rebellen zu bündeln. Der Rückzug ermöglichte erst die | |
| Errichtung einer De-facto-Autonomie in Rojava. Nun ist das Regime, das | |
| jahrzehntelang alle nicht arabischen Minderheiten unterdrückte, wieder mit | |
| seinen Soldaten im Nordosten Syriens. | |
| ## Junge Kurden werden an der Front verheizt | |
| Die Syrer würden junge Kurden zwar nicht auf der Stelle umbringen, wie sie | |
| es von den Rebellen befürchten, meinen die Männer. Sie hätten aber | |
| Strafbataillone für jene Männer im wehrhaften Alter, die sie in von ihnen | |
| eroberten Gebieten entdeckten. Um die Deserteure zu bestrafen, gehe es für | |
| sie dann direkt an die Frontlinie. „Sie schicken dich direkt ins Feuer, | |
| damit du gleich draufgehst“, sagt der 20-jährige Emad Ahmed. Bei dem Ziel, | |
| möglichst viele Kurden zu töten, gebe es ohnehin keinen Unterschied | |
| zwischen dem Assad-Regime und seinen bewaffneten Feinden, sind sich die | |
| Freunde sicher. | |
| Angesichts der Präsenz der syrischen Armee in Rojava sei der Weg zurück | |
| verstellt, sagen sie. Keiner der jungen Kurden glaubt, dass Damaskus auf | |
| Dauer eine autonome Zivilverwaltung in Nordsyrien dulden werde. „Die Syrer | |
| wollen mehr“, sagt der 21-jährige Mahmud Mohammed al-Mohammed. | |
| Wenn die Hilfe des syrischen Regimes gegen die Türken nur eine etwas | |
| langsamere Todesart für Rojava ist, haben die jungen Männer durch ihre | |
| Flucht zumindest nichts zum kurdischen Widerstand beigetragen. Auf die | |
| Frage, ob es nicht besser gewesen wäre, mit der Waffe in der Hand gegen die | |
| Türken, ihre arabischen Verbündeten oder die Armee Assads zu kämpfen, legt | |
| sich ein Schweigen über die Gruppe. | |
| Khanis Hussain al-Mohammed zückt sein Smartphone und zeigt Bilder aus dem | |
| Heimatdorf der Freunde, Kafr Saghir. Es liegt nicht in Rojava, sondern | |
| nördlich des Ende 2016 vom Assad-Regime eroberten Aleppo. Die Fotos zeigen | |
| grüne Felder und Schafherden, dazwischen einfache Betonhäuser. „Ein | |
| Paradies“, meint der 19-Jährige. Ein weiteres Foto zeigt Kafr Saghir dann | |
| als eine wie von Bulldozern niedergewalzte Schutthalde. | |
| Vor vier Jahren hätten die Araber aus der Umgebung das Kurdendorf dem | |
| Erdboden gleichgemacht. Sie wollten die ungeliebte Minderheit aus dem | |
| umkämpften Umland von Aleppo loswerden. Er und seine Freunde hätten schon | |
| vor der Vertreibung nur unregelmäßig die Schule besuchen können, meint der | |
| junge Kurde. „Ich will die ganzen Kämpfe aus meinem Kopf bekommen“, sagt | |
| al-Mohammed. Die anderen Jungen nickten. Es scheint, als gehörten sie zu | |
| einer Kriegsgeneration, die ihr Land aufgegeben hat. Sie kann das Morden | |
| einfach nicht mehr ertragen. Egal, ob die eigene Seite gewinnt oder | |
| verliert. | |
| 14 Nov 2019 | |
| ## AUTOREN | |
| Cedric Rehman | |
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