| # taz.de -- Jüdischer Student über jüdisches Leben: „Jude war eher ein Sch… | |
| > Marko Khropko vom Verband jüdischer Studierender will einen offenen | |
| > Umgang mit dem Jüdischsein. In Göttingen hat er damit gute Erfahrungen | |
| > gemacht. | |
| Bild: Sichtbares Judentum: der Hamburge Rabbiner Shlomo Bistritzky bei der Einw… | |
| taz: Herr Khrapko, es gibt Juden in Deutschland, die sagen, dass für sie | |
| das offene Praktizieren ihres Glaubens nicht mehr möglich ist. Geht Ihnen | |
| das auch so? | |
| Marko Khrapko: Das ist eine sehr schwierige Frage. Wenn es darum geht, die | |
| Religion zu leben, mit einer Kippa auf der Straße rumzulaufen, dann würde | |
| ich schon sagen, dass es in manchen Gegenden Deutschlands schwierig ist. | |
| Das Bild von Jüdinnen und Juden gehört in unserer deutschen Gesellschaft | |
| noch nicht zum Alltag. Es wird oft als etwas Fremdes gesehen und die | |
| Menschen reagieren dann eher negativ. Aber an den Orten, wo schon große | |
| jüdische Gemeinden sind, die auch präsent sind, wie zum Beispiel in Berlin, | |
| Hamburg, München, Frankfurt, würde ich sagen, dass es eher weniger großes | |
| Problem ist, da in diesen multikulturellen Städten Juden schon eher zum | |
| Stadtbild gehören. | |
| Aber es gab Übergriffe auf jüdische Menschen sowohl in Berlin als auch in | |
| Hamburg – im letzteren Fall sogar vor dem Rathaus. | |
| Auf der einen Seite schützen Großstädte mit ihrer Diversität und Anonymität | |
| vor Übergriffen in dem Sinne, dass Menschen sich weniger für das Aussehen | |
| der Anderen interessieren, weil sie sich an eine multikulturelle | |
| Gesellschaft einfach gewöhnt haben. Wenn jemand auf dem Land mit einer | |
| Kippa auf dem Kopf in den Bus steigt, wird er mehr Aufmerksamkeit auf sich | |
| ziehen als in der S-Bahn in Hamburg. Jedoch ist auch aufgrund der viel | |
| größeren Anzahl an unterschiedlichen Menschen natürlich auch die | |
| Wahrscheinlichkeit höher, dass man auf eine antisemitische Person oder | |
| Gruppe trifft. Ich kann daher zum jetzigen Zeitpunkten leider nicht sagen, | |
| dass man mit Kippa überall sicher ist. Egal ob in der Großstadt oder auf | |
| dem Land. | |
| Wie ist Ihre persönliche Erfahrung in Göttingen? | |
| Die ist, vor allem als Student, sehr positiv. Bevor ich nach Göttingen | |
| gekommen bin, war das Judentum für mich eher eine Last. Es hat für mich | |
| viel Antisemitismus und Probleme bedeutet; ich habe versucht, es nicht in | |
| die Öffentlichkeit zu tragen. Göttingen ist ein sehr universitäres Umfeld, | |
| es ist eine sehr offene, liberale, frei denkende Gesellschaft. Hier habe | |
| ich das Gefühl, dass die Menschen eher interessiert sind, auch wenn sie | |
| nicht so genau wissen, wie sie damit umgehen sollen, weil man nicht so oft | |
| jemanden trifft, der jüdisch ist, es ist eher etwas Besonderes. Wir haben | |
| zum Beispiel in der jüdischen Campuswoche eine Umfrage zu Judentum und | |
| Antisemitismus durchgeführt, an der 120 Studierende teilgenommen haben. Die | |
| Ergebnisse waren sehr positiv, die Menschen fanden es toll, dass eine | |
| jüdische Studierendengruppe so viel Präsenz an der Universität zeigt. | |
| Und was für ein Umfeld haben Sie vor Göttingen erlebt? | |
| Ich bin in Hanau in der Nähe von Frankfurt aufgewachsen. Dort war es leider | |
| schon ein Problem, wenn ich mal erzählt habe, dass ich jüdisch bin. Wenn | |
| ich mit Menschen unterwegs war, die nicht wussten, dass ich jüdisch bin, | |
| ist das Wort Jude sehr oft als Schimpfwort gefallen, es wurden Aussagen | |
| gemacht wie: Hitler hat schlimme Dinge getan, aber wir haben ihm die | |
| Autobahnen zu verdanken. | |
| Was waren das für Leute? | |
| Es war ein nicht-reflektierter Antisemitismus. Die häufigste Form, auf die | |
| man trifft, ist das Reproduzieren von irgendwelchen Sachen, die man in der | |
| Schule auf dem Pausenhof gehört hat, in der Bar, so etwas wie: Die Juden | |
| sind geizig. Es gibt natürlich die Freaks, die in Foren unterwegs sind und | |
| dort ihre Verschwörungstheorien verbreiten. Aber 90 Prozent ist dieser | |
| Alltagsantisemitismus, der dazu führt, dass Jüdinnen und Juden nicht | |
| darüber reden möchten, dass sie jüdisch sind, weil sie ständig die | |
| Erfahrung machen, dass es negativ konnotiert ist. Allein dieser Begriff | |
| Jude war für mich eine lange Zeit eher ein Schimpfwort als eine Glaubens- | |
| oder Kulturzugehörigkeit, weil ich es fast nur in solch einem Kontext | |
| gehört habe. | |
| Wurde in Ihrem Elternhaus jüdische Identität gepflegt? | |
| Ein hoher Anteil der Jüdinnen und Juden in Deutschland hat so wie ich | |
| Wurzeln in der früheren Sowjetunion, weil es in den 90er Jahren eine Welle | |
| von jüdischen Kontingentflüchtlingen gab. Für die Generation meiner Eltern | |
| war Judentum noch einmal viel schwieriger als für uns, weil sie nicht nur | |
| gesellschaftlichen Antisemitismus, sondern auch den institutionellen in der | |
| Sowjetunion erlebt haben. In Deutschland gibt es den heutzutage | |
| glücklicherweise nicht: Juden werden akzeptiert, sie genießen Gleichheit. | |
| Es gibt die Hardcore-Extremisten und Holocaust-Leugner, die aber ein sehr | |
| kleiner Anteil der Gesellschaft sind und nicht der Teil, der entscheidet, | |
| wie wir leben und arbeiten. | |
| Wie sah der institutionelle Antisemitismus aus? | |
| Bei unseren Eltern im Pass stand, dass sie Juden sind und den musste man in | |
| der früheren Sowjetunion selbst in der Bücherei vorlegen. Ich bin in der | |
| Ukraine geboren und in der Geburtsurkunde steht „Jude“. In Deutschland | |
| haben wir den Vorteil, dass wir nicht darüber sprechen müssen und man es | |
| verheimlichen kann. Ich bin damit aufgewachsen, dass meine Eltern mir | |
| gesagt haben: „Du darfst auf keinen Fall erzählen, dass du jüdisch bist; | |
| das ist etwas, was wir hier zu Hause ausleben können, draußen ist es eine | |
| Gefahr.“ Das führt dazu, dass die jüdische Gemeinschaft von außen als | |
| Community wahrgenommen wird, die sehr verschlossen ist. Aber es ist die | |
| Aufgabe meiner Generation, diese Ängste zu überwinden, weil wir in einer | |
| ganz anderen Gesellschaft leben. Wir fühlen uns deutsch, wir sind sozusagen | |
| der Sowjetunion entflohen. | |
| Es ist ein bemerkenswerter Wechsel. Man hätte ja auch annehmen können, dass | |
| dieser Rückzug so prägt, dass ihn die nächste Generation fortsetzt. | |
| Natürlich ist es komisch, wenn ich einen Freund habe, mit dem ich seit zehn | |
| Jahren viel unternehme und dann erfahre ich über andere Leute, dass er | |
| jüdisch ist. Dann frage ich mich schon: Warum hat er mir das nicht erzählt? | |
| Warum sagt er nicht: Hey, ich bin jüdisch, wie du Christ bist und er Moslem | |
| und er Franzose und er kommt aus Italien. Wir versuchen, über jüdische | |
| Themen und Belange zu sprechen, als sei es etwas ganz Normales, weil es zur | |
| deutschen Gesellschaft gehört und schon immer dazugehört hat. Wenn jetzt | |
| Synagogen in Deutschland gebaut werden, heißt das nicht, dass es immer mehr | |
| Juden gibt – es gibt sie schon die ganze Zeit, es gibt nur keine Synagogen | |
| oder nur wenige. | |
| Was Sie erzählen, klingt sehr positiv. Wie geht das zusammen mit | |
| Schilderungen von Übergriffen oder dem Anschlag von Halle? | |
| Es ist natürlich sehr unterschiedlich. Ich spreche für Göttingen und den | |
| Alltag an den Universitäten. Wenn ich an einem Brennpunkt in Frankfurt oder | |
| Hamburg aufwachse, wo Leute Vorurteile möglicherweise nicht so | |
| reflektieren, würde ich mich nicht alleine hinstellen und sagen „Ich bin | |
| jüdisch und ich gehöre zu euch“, weil ich nicht erwarten kann, dass ich | |
| einfach aufgenommen werde. Aber ich finde es einen falschen Schritt zu | |
| sagen: Wir müssen uns zurückziehen, wir brauchen mehr | |
| Sicherheitsvorkehrungen. Selbst wenn wir 20 Polizisten vor der Synagoge | |
| stehen haben, dann warten halt Leute, bis der Gottesdienst vorbei ist, die | |
| Leute zwei Straßen weiter gezogen sind und es gibt da den Anschlag. Wenn | |
| Politiker sagen, wir brauchen mehr Sicherheitsvorkehrungen, löst man damit | |
| nicht das Problem Antisemitismus in unserer Gesellschaft. | |
| Wie würde man es lösen? | |
| Indem man jüdische Organisationen dabei unterstützt zu sagen, dass das | |
| Judentum Teil unserer Gesellschaft ist. Natürlich gibt es eine sehr | |
| besondere Verbindung zwischen Deutschland und dem Judentum, es gibt | |
| vielleicht eine andere Verantwortung. Aber es ist für mich nicht in dem | |
| Sinn etwas Besonderes, dass es etwas anderes ist als andere Religionen und | |
| Kulturen. Wir, als Verband jüdischer Studierender, wollen durch unsere | |
| Präsenz in der Öffentlichkeit allen jüdischen Studierenden zeigen, dass das | |
| Judentum nichts ist, wofür man sich schämen muss, und Ihnen dabei helfen | |
| Ihre Jüdischkeit auszuleben. | |
| Wie sichtbar sind Sie persönlich als jüdischer Student? | |
| Nach außen hin bin ich nicht als jüdisch erkennbar. Judentum ist nicht nur | |
| eine Religion, sondern eine Kultur und eine Ethnie, die mit einer Religion | |
| zusammenhängt. Weil ich jüdisch bin, bedeutet das nicht, dass ich Kippa | |
| trage, Locken habe und regelmäßig bete. Ich bin jüdisch und nicht sehr | |
| religiös, ich gehe alle zwei Wochen in die Synagoge, weil es Teil meiner | |
| Kultur ist. Wenn wir über Religion oder Herkunft sprechen, dann sage ich | |
| natürlich, dass ich jüdisch bin, das ist mir sehr wichtig, weil ich es | |
| lange nicht gemacht habe. Und weil ich viele kenne, die es nicht tun und | |
| die ihr Judentum auf die Erfahrung von Antisemitismus reduzieren. Aber der | |
| Antisemitismus sollte kein jüdisches Problem sein, sondern eines der ganzen | |
| Gesellschaft. | |
| Was sollte die tun? | |
| Man kann es umkehren: So wie Menschen sich auf ihr Judentum besinnen, wenn | |
| sie Antisemitismus mitbekommen, genauso ist es bei vielen anderen, dass sie | |
| sich nur dann an die Existenz des Judentums erinnern. Wir reden jetzt über | |
| Antisemitismus, das ist bei Rassismus und anderen Formen von | |
| Diskriminierung genauso: Menschen warten, bis etwas passiert, dann gehen | |
| sie auf die Straße und haben es nach zwei Wochen wieder vergessen. Aber es | |
| ändert sich erst etwas, wenn jeder nach rechts und links schaut und | |
| Diskriminierung auch im Alltag angegangen wird. | |
| Wie reagieren Ihre Eltern darauf, dass Sie so nach außen gehen? | |
| Es findet ein großes Umdenken statt. Am Anfang haben sie gesagt: „Willst du | |
| dich wirklich vor Leute, die du gar nicht kennst, hinstellen und sagen, | |
| dass du jüdisch bist?“ Meine Großeltern haben dabei immer noch ein sehr | |
| mulmiges Gefühl. Aber meine Eltern machen sich Vorwürfe, dass sie es nicht | |
| verstanden haben. Sie sind nach Deutschland gekommen und dachten, es wäre | |
| genauso wie in der Sowjetunion. | |
| 11 Nov 2019 | |
| ## AUTOREN | |
| Friederike Gräff | |
| ## TAGS | |
| Judentum | |
| Antisemitismus | |
| Jüdische Kontingentflüchtlinge | |
| CDU | |
| Jüdische Kontingentflüchtlinge | |
| Antisemitismus | |
| Antisemitismus | |
| Hamburg | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Jüdische Aktionswoche der CDU: Komm, wir spielen Juden! | |
| Mit der Aktion „Von Schabbat zu Schabbat“ will die CDU jüdisches Leben | |
| abbilden. Doch Jüdinnen und Juden sind nur Projektionsfläche deutscher | |
| Folklore. | |
| Flüchtlinge aus der früheren UdSSR: Arm, jüdisch, eingewandert | |
| Von wegen historische Verantwortung: Jüdische Immigranten sind | |
| schlechtergestellt als Spätaussiedler. So wie Emil Feygman. Seine Rente | |
| beträgt 71,25 Euro. | |
| Jahrestag der Novemberpogrome: Auswandern wegen Antisemitismus | |
| 81 Jahre nach den Novemberpogromen steigt wieder der Antisemitismus. Der | |
| Vorsitzende der jüdischen Gemeinde Halle überlegt sogar auszuwandern. | |
| 9. November, diesmal: 1969: Der Tabubruch | |
| Vor 50 Jahren scheiterte ein Attentat auf das Jüdische Gemeindehaus in | |
| Berlin. Die Täter waren Linksterroristen, die Bombe kam vom | |
| Verfassungsschutz. | |
| Synagogen-Initative in Hamburg: Zurück auf den Bornplatz | |
| Hamburgs größte Synagoge stand gleich neben der Universität – bis zu | |
| Schändung und Abriss. Jetzt wird über einen Wiederaufbau diskutiert |