Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Medien und ihr Publikum: Leser*innen-Beschimpfung
> Kritik gehört zum Geschäft, klar. Warum aber dürfen nur Leserinnen und
> Leser schimpfen? Also wird heute einmal zurückgegeben.
Bild: Kritik erweist sich nicht selten als inhaltsleere Sprechblase
Autorinnen und Autoren müssen es sich gefallen lassen, für ihre Arbeit von
Leserinnen und Lesern beleidigt, geschmäht und denunziert zu werden, mit
Kritik und Debatte hat das meistens nicht mehr viel zu tun. Ist nun mal so,
Empfindlichkeit gehört nicht zum Berufsbild. Aber es ist doch nur fair,
dass man auch mal zurückschimpft, oder?
Oh ihr verschnarchten Hysteriker, ihr neunmalklugen Besserwisser, ihr
postcalvinistischen, neospießigen, nicht so geheimen Agenten der
Gedankenpolizei, ihr arroganten Besitzer der reinen Wahrheit, die ihr mit
nicht weniger als Delegitamation und Abo-Kündigungen droht, wenn jemand
nicht genau das schreibt, was ihr schon immer gewusst habt. Ihr glaubt,
[1][ihr könnt Autorinnen und Autoren nach Herzenslust beschimpfen] und
müsst dabei vor keiner persönlichen Beleidigung zurückschrecken, denn die
dürfen ja nicht zurückschimpfen und -beleidigen, weil sie eure Deppen und
Sklaven sind, an denen ihr eure Neurosen und Minderwertigkeitskomplexe
ausleben könnt.
So mies bezahlt, wie die sind, sollen sie ja nicht aufmucken gegen die
Kundschaft, die haben will, was sie verlangt. Dorthin denken, wo wir nicht
schon unseren Sprach- und Sprechregler aufgestellt haben, ist ebenso
verboten wie jede Form der Kritik, die auf uns selber zurückfallen könnte:
Das verbittet ihr euch so energisch, dass man eure verbale Diarrhö kaum
noch von den rechten Trollen und neoliberalen Hipstern unterscheiden kann,
die sich in euren Foren herumtreiben. In diesen Foren, wo man stets den
Eindruck hat, als stimme etwas prinzipiell mit der Beziehung zwischen einem
Medium und seinen Adressaten nicht. Ihr muffigen Zerstörer der
Aufklärungslust.
Ihr Analphabeten, Astrologen, artenreiche Angeber! Ihr weitgereisten
Flugschämer, besserverdienenden Alltagshelden, die für jede ökologische und
soziale Selbstverständlichkeit einen Moralorden haben wollt und die ihr,
wenn es gerade nicht über einen Autor oder eine Autorin herzuziehen gilt,
übereinander herfallt, als sei die Zeitungs- und Magazinlektüre eigentlich
nur als [2][Trigger für Empörung und Denunziation] im Leserforum gedacht.
Wie Vattern, der sich einen Fernsehapparat anschaffte, damit er was hat,
worüber er sich aufregen kann. Was habt ihr aus einer urdemokratischen Idee
der offenen Debatten gemacht?
## Homöopathen der Diskurse …
Wie gekonnt habt ihr verhindert, dass Leserinnen und Leser und Autoren und
Autorinnen eine gemeinsame, widerständige, kritische und kreative Kultur
erzeugen, eine Basis der demokratischen Zivilgesellschaft vielleicht. Ihr,
die ihr Obstruktionismus mit Streitlust verwechselt und Zensurenverteilen
(Thema verfehlt! Setzen, Sechs!) mit Dialog. Ihr, die ihr eure politische
Ungenauigkeit hinter moralischer Gewissheit verstecken wollt, die keinen
Gedanken weiterdenken, sondern immer nur zurückschrauben könnt aufs
behagliche Maß in euren geschmackvoll gentrifizierten Kiezen.
Ihr Homöopathen der Diskurse, Bücherschrankbesitzer, ihr
Schwerst-Realisten, die ihr am liebsten hättet, dass alles so bleibt, wie
es ist, nur ohne Nazis und ohne Klimakatastrophe! Ihr aufgeblasenen
Kenn-ichs, Weiß-ichs, War-ich-schons! Ihr eifernden Narzissten, die eines
sicher wissen, nämlich dass sie alles besser könnten, wenn man sie nur
lassen würde.
Ihr Espresso-Schlürfer, Zum-Vietnamesen-Geher,
An-der-eigenen-politischen-Biografie-Schummler, selbstgerechte
Glaubensgemeinde, die nicht müde wird, zu diffamieren und denunzieren, bis
sie genau den Journalismus hat, den sie verdient. Keine Ketzereien, keine
dialektischen Experimente, keine Formenvielfalt. Ihr Halbexperten,
Hasenfüße, Hanfgesichter, Hallelujahs! Ihr Protagonisten der
Schwarmverblödung. Ihr, die ihr lieber zehnmal über Donald Trump lacht als
einmal über euch selbst! Ihr Gesunden! Ihr Guten! Ihr Gastgeber!
Ihr Gastro-Gonzos! Ihr Wikipedia-Zitierer, die den Rest der Debattierer als
Wikipedia-Zitierer verunglimpfen. Ihr prinzipiell ungenau Lesende, ihr nie
Zuhörende, ihr von aller Nichtüberdeutlichkeit Überforderte, ihr
rhetorischen Sicherheitsfanatiker, ihr, die ihr eure Diskurse reinhalten
wollt wie die Nazis ihre nationalen Zonen, ihr, die ihr vor jedem Satz
Reißaus nehmen müsst, der damit droht, euch zu entlarven.
## Ihr Horrorclowns der Kommentarfunktionen …
Ihr Deppen, Dödel, Doofis, Dunkelmänner und -frauen; ihr Pfeifen, Pfosten
und Pflaumen; ihr Korrekturleser, Kolporteure und Kommanditisten; ihr
Hetzer und Heiligsprecher; ihr müde Manövriermasse der Mittelschicht; ihr
verdrucksten Zornnickel und hypersensiblen Neidhammel, ihr Meister der
normierten Niedertracht; ihr Horrorclowns der Kommentarfunktionen; ihr
Empörungsonanisten; ihr bräsigen Sonntagsschüler der Postdemokratie; ihr
Fahrradfahrer des Kapitalismus; ihr Garanten der Altklugheit; ihr
wichtigtuerischen Wischiwaschis! Ihr, die ihr eine Zeitung ersehnt, die
euch Gürtel und Hosenträger zugleich ist; ihr, denen man nichts erzählen
kann, weil ihr schon immer die Feuerwehr ruft, wenn ein Lagerfeuer
entzündet wird.
Ihr Kulturfuzzis, Kunstkonsumenten, Kenner und Liebhaber, die schon immer
das Neueste gehört haben, wenn es nur das Alte ist. Ihr Wächter und
Kontrolleure, ihr Aufpasser und Pädagogen, ihr Fundamentalisten des
kleinbürgerlichen Realismus; ihr abgeklärten Nachtwächter des Wissens und
der Fantasie; ihr nimmermüden Normierer mit dem bedingten Reflex, keinen
Austausch unterschiedlicher Positionen in einen fruchtbaren Streit und
gemeinsame Diskurs-Arbeit ausarten zu lassen, sondern jede Abweichung als
irrsinnig, bösartig und wahrscheinlich aus niederen Motiven getätigt und
von äußeren Kräften gesteuert zu denunzieren; ihr, die ihr noch jeden
Ausreißer wieder einfangt, ihr Damen und Herren der Dispositionen; ihr
Konstrukteure des alternativen Biedermeier, nach Zuspruch und Bestätigung
gierend, ohne Neugier, ohne Fantasie, ohne Wagnis.
Ihr heulenden Höllenhunde. Ihr, die ihr euch gegenseitig nach allen Kräften
am freien Denken und am utopischen Geist zu hindern versucht …
… ihr seid jetzt wieder dran.
13 Nov 2019
## LINKS
[1] /Medienkritikerin-Samira-El-Ouassil/!5621499
[2] /Ueberreaktion-der-Medien-auf-Rezos-Kritik/!5617514
## AUTOREN
Georg Seeßlen
## TAGS
Schlagloch
Lesestück Meinung und Analyse
Literaturbetrieb
Schwerpunkt AfD
Schlagloch
Hello Kitty
## ARTIKEL ZUM THEMA
Strategien populistischer Politik: Warum „Volk“ antidemokratisch ist
Populisten mögen keinen Widerspruch. Das „Volk“ als Gegenüber ist deshalb
ideal – im Chor kann es kaum Nachfragen stellen. Subjekte können das schon.
Schönes Bayern: Mähroboter und Misthaufen
Bayern will einem besonders heimatverbundenen Dorf einen Preis verleihen.
Wie bewertet das ein Dorfbewohner? Geht es noch heimatverbundener?
Kolumne Schlagloch: Diktatur der Niedlichkeit
In Teilen Asiens gibt es kein Entrinnen vor Hello Kitty & Co. Kindchen,
Tierchen und andere Kreaturen verniedlichen Konsum und Kapitalismus.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.