# taz.de -- Kolumne Schlagloch: Diktatur der Niedlichkeit | |
> In Teilen Asiens gibt es kein Entrinnen vor Hello Kitty & Co. Kindchen, | |
> Tierchen und andere Kreaturen verniedlichen Konsum und Kapitalismus. | |
Bild: Hello Kitty und kein Entrinnen, dabei gibt es nicht mal eine Comic-Serie … | |
Vorgestern habe ich auf dem Platz des Himmlischen Friedens Frisbee | |
gespielt. Mit einem Hello-Kitty-Frisbee. | |
Natürlich habe ich vorgestern nicht mit einem Hello-Kitty-Frisbee auf dem | |
Platz des Himmlischen Friedens gespielt. Das wäre schon aus | |
verkehrstechnischen und polizeilichen Gründen unmöglich. Und ich hatte | |
zuletzt auch gar keinen Urlaub, in dem ich hätte nach China fahren können. | |
Das mit dem Hello-Kitty-Frisbee am Tian’anmen-Platz hab ich nur geträumt. | |
Vielleicht nach etwas zu viel Gong Bao und Tsin Tao, auf jeden Fall nach | |
einer Überdosis Niedlichkeit in Medien, Werbung, Öffentlichkeit und Kunst. | |
Und nach der Erzählung von einem Hello-Kitty-Hotel, in dem alles, von der | |
Bettwäsche bis zum Frühstücksgeschirr, mit dieser verdammten Katze | |
dekoriert ist, zu der es nicht einmal eine richtige Comic-Serie oder eine | |
Animationsserie gibt. Hier also, in der Alltagskultur des mehr oder weniger | |
Fernen Ostens, fällt mir auf, vielleicht wegen der penetranten | |
Allgegenwärtigkeit und der Nichtverschämtheit, woran ich mich daheim schon | |
längst gewöhnt habe: das Wuchern der Bilder von niedlichen Tierchen, | |
Roboterchen, Kindchen und Männlein und Weiblein, großäugig und grinsend, | |
(Kě’ài) auf Chinesisch, (Kawei) auf Japanisch, (gwiyeoun) auf Koreanisch: | |
keine Anleitung, kein Hinweis, keine Werbung, kein Gebrauchsgegenstand ohne | |
irgendwas quietschbunt Niedliches, eine Ikonografie der gnadenlosen und | |
allgegenwärtigen Infantilisierung, die so massiv daherkommt, dass man ihr | |
ohne Weiteres einen gewissen Zwangscharakter zuschreiben will. | |
Es ist ein Zwang von oben ebenso wie ein innerer Zwang, um genau zu sein. | |
Der öffentliche Raum ist bis in den allerletzten Winkel besetzt von | |
niedlichen Zeichen und Zeichen der Niedlichkeit. Es gibt kein Entrinnen | |
nirgends. | |
Bei uns entspricht das einer Inflation von [1][Kätzchen-Videos] und anderer | |
Bilder von niedlichen Tieren im Internet und speziell in den sozialen | |
Medien, es entspricht den süßen kleinen Monsterlein in der Pharma-Werbung | |
für Senioren, niedlichen Erklär-Helfern und anderen Übersprüngen aus der | |
Kinderkultur (die im Gegenzug von Obszönitäten und Angstbildern aus der | |
Erwachsenenwelt kolonialisiert wird). Influencer werden zu Agenten der | |
Niedlichkeit und Niedlichkeit zum Medium des Influence. | |
Woher kommt dieser Hang und Zwang zur Niedlichkeit als kulturellem und, | |
wenn man genau hinsieht, auch zum politischen Code? Gewiss, da ist diese | |
durchaus ja nachvollziehbare Sehnsucht, nach beinharter Arbeit und | |
Konkurrenz von ziemlich früh an, zurückzukehren in einen semantischen Raum | |
ewiger und glückseliger Kindheit – oder doch Kindlichkeit, denn kaum etwas | |
ist so dazu angetan, die Kindheit zu rauben, als die fetischistische | |
Kawei-Kultur, die aus Kindern schon monströse Abbildungen der erträumten | |
Niedlichkeit macht. | |
Da ist außerdem auch noch ein einfacher Vorgang von Projektion: Wo man | |
nichts „Ernsthaftes“ sagen darf über die Welt, in der man lebt, da ist | |
Niedlichkeit der naheliegende Ausweg aus der Misere. Dieser Zwang zur | |
Verblendung mag durch politische Zensur entstehen, aber ebenso durch ein | |
allgemeines Dispositiv, den „Ernst der Lage“ nicht auch noch in die | |
öffentliche Zeichensprache zu transportieren. | |
Und schließlich ist das Niedliche dazu angetan, sich am schnellsten und | |
einfachsten viral zu verbreiten, die allergrößten Widersprüche zu | |
überwinden und Gräben zuzuschütten, eine umfassende Allgemeinheit zu | |
erzeugen, keinen Unwillen bei niemandem zu erregen. Das Niedliche ist die | |
postideologische Form von Massen-Ornamentik; Unterwerfung scheint völlig | |
akzeptabel, wenn sie nur in der Erscheinung strahlender Kinder und | |
imaginärer Begleiter daherkommt. Lasset die Kinder Fähnchen schwenken, | |
lasset die Kinder Kreditkarten in den Kaufhäusern nutzen, lasset die Kinder | |
über ihre Smartphones konsumieren. Auf den Heroismus der Politik folgt die | |
Niedlichkeit des Kapitals. Im Niedlichen drückt sich der Kapitalismus | |
ebenso perfekt aus, wie er sich selbst verbirgt. | |
Erst dem zweiten oder dritten Blick offenbart sich schließlich, wie | |
vergiftet die Symbolschleudern der unentrinnbaren Niedlichkeit sind. Hier | |
zeigt sich, wie die im Niedlichen nur scheinbar verdrängte [2][sexuelle und | |
sadistische Energie ihre Blasen wirft und aus der Infantilisierung der | |
Ästhetik eine Art von kollektiver Pädophilie erwächst]. Dort ist das | |
Niedliche gleichgesetzt mit dem Konformen und Kontrollierten, als wäre ein | |
Verstoß gegen das Niedlichkeitsgebot in etwa so gefährlich wie eine | |
Abweichung von politischen oder religiösen Dogmen. Und wieder woanders ist | |
die Niedlichkeit zum Synonym für kapitalistische Technologie geworden: | |
Waffen, Maschinen, Überwachungen, Gebote und Verbote, Gefahren, ökologische | |
und kulturelle Sünden – alles halb so schlimm, wenn es im Zeichen der | |
allgemeinen Verniedlichung steht. | |
Das Niedliche beerbt schließlich das Aggressive und das Sexuelle als | |
wirksamstes Mittel der Aufmerksamkeitsökonomie. Es ist oft ganz | |
buchstäblich etwas Schreiendes darin, etwas, das danach verlangt, gefüttert | |
und gestreichelt zu werden. Das Niedliche, sei’s im Spielgefährten des | |
einsamen Kindes, sei’s als Erscheinung des social bot in der Pflege | |
einsamer Seniorinnen und Senioren, sei’s als Anleitung zum Knopfdrücken | |
ohne Bewusstsein für die Folgen oder als Gegenstand der | |
Alltagsverrichtungen, die man mehr zum Schein als zur Praxis vornimmt, | |
ersetzt als Gespenst urtümlicher Affekte und Begierden und als Auslöser | |
urtümlicher Zuwendungsrituale, was einst Gesellschaft und Nachbarschaft | |
war. | |
Und so wird das Niedliche Ausdruck der Einsamkeit. Und sehr, sehr viel Müll | |
macht die Kultur des Niedlichen auch. | |
13 Apr 2019 | |
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## AUTOREN | |
Georg Seeßlen | |
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