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# taz.de -- Kino-Retrospektive: Ein Herz für Gammler
> Zwischen Soft-Porno, APO und Schlager: Die Filme des deutschen Regisseurs
> Ulrich Schamoni sind fast vergessene Meisterwerke des Neuen Deutschen
> Films
Bild: Wehmütiger Film über die in den 70er Jahren verglimmenden Freiheitssehn…
Getümmel in einer schwarzweißen Fußgängerzone der 60er: „Was wissen Sie v…
Jungen Deutschen Film“, fragt die Reporterin eine Passantin. Antwort: „Dass
ich da unbedingt scharf drauf bin, kann ich nun nicht gerade sagen.“ Auch
die übrigen Passanten im Blick der Kamera: ratlos.
Szenen aus [1][Ulrich Schamonis] essayistischem Dokumentar-Kurzfilm „Geist
und etwas Glück“ von 1965. Die Debatte über den Alten, den Jungen, den
Neuen Deutschen Film tobt. Zwar nicht auf der Straße, aber umso energischer
in den Hallen der Oberhausener Kurzfilmtage. Seit nunmehr drei Jahren
wartet man dort darauf, dass die Jungen den Alten endlich die Butter vom
Brot nehmen.
Mehr als Kurzfilme sind bislang kaum vorzuweisen, dafür entstehen gerade
die ersten Langfilme. Draußen auf der Straße stehen derweil die heute
legendären Regisseure Klaus Lemke, Rudolf Thome und Max Zihlmann und
fordern jugendlich-linkisch, die Oberhausener doch zu den Akten zu legen.
Neuer Deutscher Film – Schlöndorff, Kluge, Reitz sowie Fassbinder, Herzog,
Wenders. So die heute gängige, in ihrer Kanongravitas etwas erdrückenden
Einschätzung. Schamonis Film, rund um die Kurzfilmtage entstanden, legt als
einzigartige Zeitkapsel die Dynamiken der Ursprünge frei.
Mit Ulrich Schamonis Abtreibungsdrama „Es“ folgte wenig später der erste
große Kassenerfolg des Neuen Deutschen Films. Schamoni drehte weiter,
erfand sich immer wieder neu, zerlegte gar für seinen letzten Kinofilm „Das
Traumhaus“ in einer atemberaubend konsequenten Tour de Force seine eigene
Villa im Grunewald. Das half alles kaum: Während der Neue Deutsche Film in
Richtung Klausurrelevanz verkrustete, geriet Schamoni etwas in
Vergessenheit. Fortan machte er in privaten Rundfunk, gründete Berliner
Radio- und Fernsehsender.
## Bademantel-Müßiggang
Dieser Tage wäre er 80 geworden, aber 1998 erlag er einer Krebserkrankung.
Im anrührenden Videotagebuch „Abschied von den Fröschen“ dokumentiert er
seine letzten Jahre in besagter Villa – ein filmisches Echo seines
wunderbaren „Chapeau Claque“ von 1974, das ebenfalls in diesem Haus
entstanden ist.
Schamoni selbst spielt darin den letzten Erben einer pleitegegangenen
Industriellendynastie, der das letzte bisschen Geld der Familie mit
Bademantel-Müßiggang, der Pflege seiner schrulligen, von allerlei
Krimskrams gesäumten Daseinswelt und dem Drehen eines Filmtagebuchs
durchbringt, das dem Zweck dienen soll, Außerirdischen eines Tages etwas
über die Welt der Menschen zu erklären.
Ohnehin galt Schamonis Herz den Gammlern, den Lebenskünstlern, ihrem
Freiheitsdrang und ihren Biotopen. Schamonis 1968er-Komödie „Quartett im
Bett“ etwa führte mitten in die Wohnruinen des alten Berlin-Kreuzbergs, wo
junge Leute zwischen Liebesaffären, improvisierten Wohnzimmer-Bauernhöfen
und abgewimmelten Gerichtsvollziehern als Nonsensglücksritter ihre
Umgebungen auf Alternativen zum wirtschaftswunderbaren Lebensentwurf der
Mehrheitsgesellschaft hin überprüften.
Ein in jeder Hinsicht verblüffender Film: Zwischen Proto-Softsex-Komödie
(„Klatsch, klatsch, Schenkelchen – Opa wünscht sich Enkelchen“),
Nonsens-Schmarrn, Schlagerexzessen (feat. die Jacob Sisters) und filmischem
Experimental-Modernismus markiert dieses Kuriosum eine Kreuzung gleich
mehrerer maßgeblicher Strömungen des BRD-Films.
Schamonis schönster Film aber ist „Eins“ von 1971: Schamoni klappert darin
persönlich als Hauptfigur die Casinos Frankreichs ab, um dort mithilfe
aufgegabelter Gammler und eines „todsicheren Systems“ zu Geld zu kommen. Es
ist ein wunderbar freier, von melancholischen Lichtstimmungen und charmant
improvisierten Szenen durchzogener Low-Budget-Film, der sich mit einer
wahnwitzigen Autofahrtsequenz am Strand in geradezu ekstatische Höhen jazzt
– nur um dann, Reifen im Sand festgefahren, auf den Boden der Tatsachen zu
knallen.
„Eins“ ist ein wehmütiger Film über die in den frühen 1970er Jahren lang…
am Horizont verglimmenden Freiheitssehnsüchte der 60er. Ein Film, dem man
beim Ermatten zusehen kann – was heutigen Menschen im Hamsterrad der
Leistungsgesellschaft immer noch den einen oder anderen Ratschlag mitgibt.
Mit [2][einer großen Retrospektive] erinnert das Zeughauskino nun an diesen
anarchischen Freigeist, der mit seinem keckem Witz zwischen allen Stühlen
saß. Zu entdecken sind Filme voller Lebensfreude, Neugier und
Menschenliebe. Ein Skandal, dass der deutsche Gegenwartsfilm diese
Verjüngungsspritze noch immer nötig hat.
6 Nov 2019
## LINKS
[1] http://www.schamoni.de/filme/
[2] https://www.dhm.de/zeughauskino/filmreihen/biotop-der-frechheit.html
## AUTOREN
Thomas Groh
## TAGS
Neuer Deutscher Film
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