# taz.de -- Kinoempfehlung für Berlin: Pionierin des Dokumentarfilms | |
> Eine Werkschau im Zeughauskino über die Dokumetarfilmerin Ella | |
> Bergman-Michel eröffnet eine vitale Szene der späten Weimarer Republik. | |
Bild: Immer mit der handgekurbelten unterwegs: Ella Bergman-Michel | |
Die Schlange vor der Essenausgabe wächst schnell. Um sie in ihrer ganzen | |
Länge zu zeigen, muss die Kamera einen Schwenk machen. Die Folgen der | |
Krisenzeit der Weimarer Republik sind in Ella Bergmann-Michels „Erwerbslose | |
kochen für Erwerbslose“ von 1931 klar zu erkennen. In einer Baracke auf | |
einer Brache in Frankfurt werden zahllose Mittagessen ausgegeben. Ein | |
Schild an der Dachleiste der Baracke erinnert: „Morgen 2 Töpfe mitbringen.“ | |
Brot wird auf dem Tisch aufgetürmt. | |
„Schon ein monatlicher Beitrag von 30 Pfennigen sichert 3 Menschen ein | |
warmes Mittagessen!“, wirbt einer der Zwischentitel. Für 10 Pfennige kann | |
man einen Liter Essen kaufen, das Essen mit nach Hause nehmen oder vor Ort | |
essen. Der Film endet mit einem weiteren dringenden Aufruf zur finanziellen | |
Unterstützung der Suppenküchen. Vor der Frankfurter Hauptwache wurde dieser | |
Film open air gezeigt, die Spenden in einem Kessel gesammelt. | |
Die [1][Reihe im Zeughauskino], die diesen und vier weitere Kurzfilme der | |
Avantgardistin Bergman-Michel zeigt, verdeutlicht noch mehr als die | |
Elendsgeschichte der Weimarer Republik. Sie bringt eine Frau und Künstlerin | |
näher. Titel der Reihe: „Die Frau mit der Kinamo“, benannt nach der | |
Handkamera, mit der Bergman-Michel arbeitete. | |
Ab 1914 hatte Ella Bergman-Michel an der Großherzoglichen Sächsischen | |
Hochschule für Bildende Künste in Weimar studiert, die später zum Bauhaus | |
wurde. Bevor sie zeitweilig zu einer Pionierin des Dokumentarfilms in | |
Deutschland wurde, hatte sie als Fotografin gearbeitet. | |
Die Kuratorin der Reihe im Berliner Zeughauskino, Madeleine Bernstorff, | |
verortet die Ausnahmefilmemacherin heute in einem Netzwerk | |
semiprofessioneller progressiver Filmkultur in der späten Weimarer | |
Republik. Bernstorff und Kolleg*innen nehmen Bergman-Michel zum Zentrum der | |
Eröffnung, um die Geschichte ihrer Szene zu erzählen. | |
Denn die Avantgardistin Bergmann-Michel war etwa auch Teil der Gruppe „Das | |
neue Frankfurt“. Zusammen gab man die „Monatsschrift für die Fragen der | |
Großstadt-Gestaltung“ heraus, organisierte Filmprogramme und Vorträge. | |
Für die Filmreihe haben Bernstorff und Kolleg*innen auch eines der | |
Filmaufführungsprogramme der Gruppe rekonstruiert. Zu sehen sind in diesem | |
Zusammenhang drei Kurzfilme, die verdeutlichen, wie sich der Aufbruch der | |
Weimarer Republik in Bauprogrammen der Zeit niederschlug. | |
Wilfried Basse dokumentierte in „Abbruch und Aufbau“ die Bauarbeiten am | |
Alexanderplatz, Hans Richter stellte in „Die neue Wohnung“ eine Utopie des | |
Häuslichen vor, die in jenen Jahren dabei war, Realität zu werden. Und | |
wiederum Bergmann-Michel zeigte in „Wie wohnen alte Leute?“ die Bedingungen | |
älterer Menschen in der Frankfurter Altstadt und stellte diese einem | |
modernen Altersheim im Grünen gegenüber. | |
Seit den 1970er Jahren hatten Filmaktivist_innen die Werke Ella | |
Bergman-Michels wiederentdeckt, auch der Rezeptionsgeschichte nimmt sich | |
die Reihe im Zeughauskino an. 1977 unternahmen etwa der Filmwissenschaftler | |
Gerd Roscher und Bergmann-Michels Schwiegertochter Sünke Michel bereits | |
eine erste filmische Annäherung an die Filmpionierin: Ehemann Robert Michel | |
vergegenwärtigt im Dokumentarfilm über die Dokumentarfilmerin die Situation | |
der Entstehungsjahre. | |
Roscher selbst wendete sich daraufhin in „Wir machen unsere Filme selbst“ | |
dem Arbeiterfilm der Weimarer Jahre insgesamt zu, arbeitete später auch | |
ausführlich über das Werk des kommunistischen Medienunternehmers Willi | |
Münzenberg. | |
„Die Frau mit der Kinamo“ porträtiert also, ausgehend von den Filmen Ella | |
Bergmann-Michels, einen Komplex von miteinander vernetzten | |
Filmemacher*innen verschiedener Zeiten, ihre Arbeitsweisen und | |
Zusammenhänge, deren Ausgangspunkte allesamt mit der Machtübertragung an | |
die Nationalsozialisten zerstört wurden. | |
In Ella Bergmann-Michels Fall trifft das buchstäblich zu: Bei den Wahlen im | |
Juli und November 1932 dreht sie Straßenszenen des Wahlkampfes. | |
SA-Aufmärsche, Mitläufer, Menschen, die am Straßenrand stehen. Der Titel | |
ihres letzten Films: „Wahlkampf 1932 (Die letzte Wahl)“. Bei den | |
Dreharbeiten wird sie verhaftet, große Teile des Materials vernichtet. | |
Nach 1945 setzte Bergman-Michel ihr politisch-künstlerisches Werk als | |
Grafikerin fort. Die Wiederentdeckung Ella Bergmann-Michels als | |
Filmemacherin ist auch eine historische Genugtuung. | |
Dieser Text erscheint im taz.plan. Mehr Kultur für Berlin und Brandenburg | |
immer Donnerstags in der Printausgabe der taz | |
18 Sep 2019 | |
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[1] https://www.dhm.de/zeughauskino/filmreihen/die-frau-mit-der-kinamo.html | |
## AUTOREN | |
Fabian Tietke | |
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