| # taz.de -- Aus Le Monde diplomatique: Wir sind nie demokratisch gewesen | |
| > Politisch, ökonomisch, sozial: In der Industriegesellschaft herrscht das | |
| > Regime der Grenzen. Es schließt Menschen aus oder ein. | |
| Bild: Wie viel ist von den demokratischen Werten der Antike in der modernen Ums… | |
| So zerrissen und gespalten sich die gegenwärtige Gesellschaft zeigt, in der | |
| Sorge um die Demokratie erscheint sie innerlich verbunden. Dass es um die | |
| demokratischen Verhältnisse nicht gut bestellt sei, ist der Tenor des | |
| politischen Diskurses von rechts wie von links. | |
| Die Rede von „postdemokratischen“ Zuständen gehört zum Basisrepertoire der | |
| linken Kritik am Neoliberalismus, aber auch die AfD wirbt neuerdings mit | |
| der rechten Anverwandlung des Willy-Brandt-Slogans „Mehr Demokratie wagen“. | |
| Und sozialwissenschaftliche Beobachter, die den Rechts-links-Gegensatz für | |
| überholt erklären, beschuldigen die jugendliche Klimaaktivistin Greta | |
| Thunberg der Demokratieverachtung: Aus ihrer unbedingten Forderung nach | |
| einer ökologischen Kehrtwende spreche die autoritäre Missachtung der | |
| Alltagssorgen von Otto Normalflieger. | |
| Als Gegenhorizont dieser vielstimmig artikulierten Besorgnisse wird häufig | |
| jenes goldene Zeitalter beschworen, in dem die demokratische Welt angeblich | |
| noch in Ordnung war. Jene bundesrepublikanischen Jahrzehnte, als die Leute | |
| wählen gingen, um ihre Stimme den Volksparteien der Mitte zu geben – und | |
| als die Tarifpartnerschaft von Kapital und Arbeit verlässlich für geordnete | |
| sozialmarktwirtschaftliche Verhältnisse sorgte. | |
| Dann aber kam die demokratische Ordnung durcheinander. Schuld waren, je | |
| nach Krisenerzählung, die Globalisierung und die Wirtschaftseliten, die | |
| Fluchtmigration und Angela Merkel, oder aber die neuesten sozialen | |
| Bewegungen mit ihren gesellschaftlichen Umgestaltungsfantasien. Und alle | |
| zusammen ließen sie das grüne Gras der korporativ-inklusiven | |
| Schönwetterdemokratie seligen Angedenkens verdorren. | |
| ## Grenzregime, das Berechtigungen selektiv zuweist | |
| Mit dem seligen Angedenken ist das freilich so eine Sache: Meistens hat | |
| das, was im Nachhinein als makellos erscheint, bei genauerem Hinsehen | |
| allerhand Macken. Das gilt auch für jene gute alte Demokratie, die | |
| heutzutage gern hochgehalten wird und wahlweise gerettet oder | |
| wiederhergestellt werden soll. In Wirklichkeit hat es sie gar nicht | |
| gegeben. | |
| Genau genommen kann man sagen: Wir sind nie demokratisch gewesen. | |
| Jedenfalls dann nicht, wenn man unter Demokratie eine gesellschaftliche | |
| Lebensform versteht, in der für alle Bürger und Bürgerinnen die gleiche | |
| Teilhabe an der politischen Gestaltung ihrer eigenen Lebensbedingungen | |
| gewährleistet ist. Von einem solch substanziellen Demokratieverständnis | |
| waren die realen gesellschaftlichen Verhältnisse selbst in ihren besten, | |
| vorpostdemokratischen Zeiten weit entfernt. | |
| Seit jeher – und bis heute – ist die Demokratie der westlichen | |
| Industriegesellschaften vielmehr geprägt und umgeben von einem Grenzregime, | |
| das politische, ökonomische und soziale Berechtigungen äußerst selektiv | |
| zuweist. Von einem Regime, das für die einen Berechtigungsräume öffnet, die | |
| es anderen verschließt. Diese Grenzlinien zwischen mehr, weniger und gar | |
| nicht Berechtigten verlaufen vornehmlich entlang dreier Achsen. | |
| Die Grenzen der Demokratie werden zuallererst von „oben“ gezogen: von den | |
| Auserwählten, die gesellschaftliche Herrschaftspositionen bekleiden. Dass | |
| diesen Herrschenden daran gelegen ist, das Fußvolk von den Möglichkeiten | |
| politischer Mitsprache und ökonomischen Erfolgs, sozialer Teilhabe und | |
| persönlicher Selbstbestimmung fernzuhalten, ist durchaus nachvollziehbar. | |
| ## Das Bemühen der Herrschenden | |
| Machen wir uns nichts vor: Die Vorstellung tatsächlicher Volksherrschaft | |
| macht die „oberen Zehntausend“ gruseln. Nicht ohne Grund gab es gegen das | |
| wahlpolitische Prinzip des „One man, one vote“ erbitterten Widerstand. Und | |
| nicht zufällig musste selbst noch in etablierten Demokratien jahrzehntelang | |
| für das Frauenwahlrecht gekämpft werden. Wobei anzumerken ist, dass es auch | |
| bei uns noch kein Wahlrecht für die vielen Millionen ausländischer | |
| „Mitbürger“ gibt, deren Entrechtung heute kaum jemand als skandalös | |
| empfindet. | |
| Zugleich haben die ökonomisch Herrschenden nie einen Zweifel daran | |
| gelassen, wer in dieser Gesellschaft nach wessen Pfeife zu tanzen hat: Wer | |
| kein Kapital besitzt, sondern lohnabhängig ist, verfügt in dem zentralen | |
| Lebensbereich – dem der vergesellschafteten Arbeit – über herzlich wenige | |
| Möglichkeiten zur Gestaltung der eigenen Lebensumstände. Im Normalbetrieb | |
| einer kapitalistischen Ökonomie gilt es bis heute als selbstverständlich, | |
| dass die Demokratie vor den Werkstoren, Bürotürmen und virtuellen | |
| Arbeitswelten haltmacht. | |
| Die Begrenzung von Berechtigungsräumen in modernen Demokratien erschöpft | |
| sich allerdings nicht im Bemühen der Herrschenden, die gesellschaftlichen | |
| Gestaltungschancen der Beherrschten zu beschneiden. Quer zu dem, was man | |
| als die Logik der Klassengesellschaft bezeichnen könnte, liegt die Logik | |
| der Konkurrenzgesellschaft, liegen die vielfältigen Arten der Grenzziehung, | |
| zu denen die Beherrschten selbst durch die Gesetze der Marktökonomie | |
| gezwungen sind. | |
| Auf den mittlerweile in sämtlichen Lebenssphären etablierten Marktplätzen | |
| kämpfen die Besitzlosen um Teilhabe, tobt der alltägliche Wettbewerb um den | |
| Rest vom Kuchen und ein paar relative Privilegien. Hier kämpfen alle um die | |
| attraktiven Positionen in der materiellen und symbolischen | |
| Statushierarchie: Männer, die Frauen, Einheimische, die Zugewanderte oder | |
| Junge, die Alte draußen halten wollen (und umgekehrt). All das gehört in | |
| der Konkurrenzgesellschaft zum demokratischen Gang der Dinge: Berechtigung | |
| erscheint als knappes Gut, und wer es einmal in den Kreis der Berechtigten | |
| geschafft hat, übernimmt fraglos die Überzeugungswelt der Etablierten. Das | |
| hab ich mir verdient! Das Boot ist voll! | |
| Genau dies ist freilich auch – und erst recht – die kollektive Parole, mit | |
| der die Bürger und Bürgerinnen demokratischer Gemeinwesen das | |
| Berechtigungsbegehren Außenstehender abzuwehren, ja möglichst schon im Keim | |
| zu ersticken trachten. Wenn auch noch „Dahergelaufene“ (im wahrsten Sinne | |
| des Wortes) Einlass in die heiligen Hallen der Staatsgesellschaft begehren | |
| und den Raum demokratischer Berechtigung mitbevölkern wollen, dann zeigen | |
| sich die Grenzen der Demokratie ganz schnell und überdeutlich. Dann nämlich | |
| wird diesen Möchtegernen klargemacht, dass sie im Haus der Demokratie, das | |
| angeblich „für alle offen“ ist, unerwünscht sind. | |
| ## Keine Grenzen der Naturbeherrschung | |
| Und diese Botschaft geht keineswegs nur von den Unterprivilegierten aus, | |
| von den objektiv oder subjektiv „Abgehängten“ der Marktgesellschaft. | |
| Vielmehr ist es das quer zu Klassenlagen und Statuspositionen sich | |
| konstituierende „Wir“ der nationalen Berechtigungsgemeinschaft, das den | |
| ungebetenen Gästen in bemerkenswertem sozialem Einklang die Türe weist. | |
| Dieses „Wir“ versteht in Sachen Öffnung keinen Spaß und gebietet: Ihr mü… | |
| leider draußen bleiben. | |
| Als Klassen-, Konkurrenz- und national organisierte Gesellschaft ist die | |
| moderne Demokratie mithin ein vielschichtiges Arrangement der sozialen | |
| Begrenzung von Berechtigungsansprüchen. Dabei sind die Mitglieder des | |
| Gemeinwesens, über alle inneren Spaltungen und Differenzen hinweg, vereint | |
| nicht allein im Willen zur Abschließung des nationalen Berechtigungsraums | |
| nach außen. Das moderne demokratische Grenzregime basiert auch auf dem | |
| gesellschaftlichen Konsens, dass es keine Grenzen der Naturbeherrschung | |
| gibt. | |
| Noch grundsätzlicher formuliert: Das gesamte demokratische | |
| Berechtigungsarrangement setzt voraus, dass sich die Gesellschaft permanent | |
| und unaufhörlich natürliche Ressourcen einverleiben und die Rückstände | |
| ihres Verbrauchs bedenkenlos entsorgen kann. Dies ist gleichsam eine | |
| weitere, vierte Achse demokratischer Öffnungs- und Schließungspraktiken: | |
| Die Bürger und Bürgerinnen finden sich, so ungleich ihre | |
| Berechtigungspositionen auch sein mögen, in der wechselseitigen Zuerkennung | |
| gleicher Rechte auf Naturentrechtung zusammen. Peinlich, aber wahr: Die | |
| gemeinsame Ermächtigung zur uneingeschränkten Inanspruchnahme der | |
| gesellschaftlichen „Umwelt“, die selbstverliehene ökologische Lizenz zum | |
| Töten, ist die implizite Geschäftsgrundlage der modernen Demokratie. | |
| Was gegenwärtig geschieht und die kapitalistischen Demokratien des Westens | |
| ebenso aufwühlt wie ihre einst hoffnungsfrohen Nachahmersysteme im Osten | |
| Europas, ist die Tatsache, dass dieses demokratische Grenzregime zunehmend | |
| offensichtlich wird. Und dass es sich gerade in seiner Offensichtlichkeit | |
| zunehmend als unhaltbar erweist. | |
| Genau dieser Umstand, die Gleichzeitigkeit vielfältiger | |
| demokratiepolitischer Erschütterungen, ist die Krisensignatur unserer Zeit. | |
| Wer diese auf den aufhaltsamen Aufstieg des „Rechtspopulismus“ reduzieren | |
| will und nach jedem einschlägigen Wahlerfolg in die wohlfeile, | |
| parteiübergreifende Sorge um die Demokratie einstimmt, mag sich zwar | |
| automatisch auf der richtigen Seite wähnen, hat aber die Tiefe der | |
| Zeitenwende nicht begriffen. | |
| ## Hauptsache, es bleibt, wie es war | |
| Denn die Grenzen der so lange so gut funktionierenden demokratischen | |
| Schließungen werden immer deutlicher sichtbar. Sie zeigen sich im | |
| rechtspopulistischen Establishment-Bashing wie in der linkspopulären | |
| Skandalisierung des „einen Prozent“ der Superreichen; in den erkennbar | |
| wahnwitzigen Auswüchsen der sozialen Statuskonkurrenz wie in der | |
| erschreckenden Selbstverständlichkeit eines ungeschminkten | |
| Alltagsrassismus; in den humanitären Kosten der polizeilich-militärischen | |
| Abschottungspolitik wie in den spürbaren ökologischen Folgen des global | |
| verallgemeinerten Wachstumskapitalismus. | |
| Es ist die dunkle Ahnung, dass die Grenzen des demokratischen Grenzregimes | |
| tatsächlich erreicht sein könnten, die den Herren und Hütern, den großen | |
| und kleinen Profiteuren, den politischen Apologeten und intellektuellen | |
| Verteidigern dieses Regimes gleichermaßen Sorge bereitet. | |
| Dabei geht es auf den vielen Stufen der Sozialhierarchie all den | |
| selbsterklärten Sorgeberechtigten darum, ihre bedrohte materielle oder | |
| symbolische Vorrangstellung zu sichern. Einheimische und Alteingesessene, | |
| „alte weiße Männer“ und die „hart arbeitende Bevölkerung“, der luxur… | |
| Geldadel und die wohlbestallten Deutungseliten – sie alle verteidigen, | |
| jeweils mit ihren Mitteln, den Status quo einer Demokratie, die sich in | |
| ihrer Berechtigungslogik als multipel geschlossene Gesellschaft erweist. | |
| All diese Gruppen wenden sich auf jeweils ihre Weise – ob per | |
| sozialmedialer Hetze oder eloquenter Diskurspolitik – gegen jede Regung | |
| einer systemüberschreitenden, der sozialen Entgrenzung und ökologischen | |
| Begrenzung der Demokratie verschriebenen Fantasie. Hauptsache, man bleibt | |
| unter sich – und alles bleibt so, wie es war. | |
| Man kann über diese vielstimmige und vielförmige Herrschaft des | |
| demokratischen Ressentiments verzweifeln, achselzuckend hinweggehen oder in | |
| Rage geraten. Aber egal wie man sich dazu verhält, der Blick auf die | |
| geistige Situation der Zeit vermittelt eine Lehre, und die lautet: So sehen | |
| Krisen aus. Allerdings muss die Krise dessen, was wir „Demokratie“ zu | |
| nennen uns angewöhnt haben, nicht das Schlechteste sein. | |
| © LMd, Berlin | |
| 27 Oct 2019 | |
| ## AUTOREN | |
| Stephan Lessenich | |
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