# taz.de -- Von Ost nach West: Unbenommen angekommen | |
> Warum glückte ihm, was andere nicht schaffen? Holger Schur ging 1991 in | |
> den Westen. Zurück wollte er nie. | |
Bild: Von Ost nach West: Holger Schur auf dem Experimenta-Gelände in Heilbronn… | |
HEILBRONN taz | Haben Sie Süßstückle?“, fragt Holger Schur die Kellnerin. | |
Die Terrassen der Cafés am Neckarufer sind an diesem sonnigen Herbsttag gut | |
besucht. Das schwäbische Idiom hat bei ihm eine sächsisch-anhaltinische | |
Färbung, schwer auseinanderzuhalten, was was ist. „Ich bin nicht gut mit | |
Sprache“, sagt der 49-Jährige mehrfach, als er seine Gedanken zu sortieren | |
versucht. Doch seiner Umgebung passt er sich mundartlich schnell an. | |
Als er nach Baden-Württemberg kam, berlinerte er leicht, weil er dort ein | |
Jahr als Soldat stationiert war. Deuten wir es als Zeichen, dass da jemand | |
bereit ist, sich auf seine Umgebung einzulassen. | |
Sagen wir: Dies ist die erste Voraussetzung. Nicht nur weggehen zu müssen, | |
sondern zu wollen. Holger Schur ist Jahrgang 1970. Bis zum zehnten | |
Lebensjahr wächst er in Halle auf, dann zieht die Familie nach Magdeburg. | |
Der Vater arbeitet als Bauingenieur, die Mutter bei der Sparkasse. Nach der | |
Polytechnischen Oberschule macht er von 1986 bis 1988 eine Ausbildung zum | |
Maschinen- und Anlagenmonteur und arbeitet anschließend beim Bau des | |
Kernkraftwerks Stendal. Es sollte das größte Atomkraftwerk der DDR werden, | |
ging aber nicht mehr in Betrieb. | |
## Uniformwechsel | |
Den eigentlichen [1][Systemwechsel] erlebt Schur bei der Armee. Im April | |
1990 wird er noch zur Nationalen Volksarmee (NVA) eingezogen, auf 12 Monate | |
verkürzter Wehrdienst. „Unsere Hauptaufgabe war es, die Waffentechnik zu | |
bewachen“, sagt er. Die DDR löste sich auf, es gab viele Diebstähle. Ein | |
paar Monate später steckt man Schur in eine neue Uniform. Die alte der NVA | |
darf er behalten, sie ist wertlos geworden, er wird neu vereidigt. Ein | |
scheinbar nahtloser Wechsel. | |
Doch dann wird Schurs altes Kombinat abgewickelt. Mit einem Kumpel fährt er | |
durch Deutschland und sieht sich Unternehmen an. Sie entscheiden sich, noch | |
bevor sie einen Job haben, für Baden-Württemberg. Dort gibt es Industrie | |
und mittelständische Unternehmen, vor allem Fahrzeug- und Maschinenbau. Der | |
Kollege kennt in Eppingen nahe Heilbronn eine befreundete Familie, wo sie | |
unterkommen. | |
Schur ist 21, als er im Westen neu anfängt. Ein biografischer Pluspunkt. | |
Jung, ungebunden, handwerkliche Ausbildung und berufliche Erfahrung. „Von | |
der Sprache her hat man es sofort gehört, wo ich herkomme“, sagt Holger | |
Schur im Café. Blaue Jeans, blauer Pulli, Bart. Nicht sehr groß, prägnante | |
Nase. | |
Hat er sich fremd gefühlt? – „Jein. Manchmal ja, manchmal nein.“ | |
Die Anweisung seines Meisters am ersten Arbeitstag habe er nicht | |
verstanden. Es gab Anspielungen, Neckereien: Wie das mit den | |
Kampfsportgruppen in der DDR gewesen sei? Schur hat dann gekontert: „Ihr | |
habt doch auch Schützenvereine hier.“ Oder ist witzelnd drüber | |
hinweggegangen: „Die Aufbauhilfe Ost habe ich anders verstanden.“ | |
Versteckt hat er sich nicht. Das in der DDR übliche Händeschütteln bei | |
jeder Begrüßung hat er sich bis heute bewahrt. | |
## Kein „Jammer-Ossi“ | |
Schon nach vier Wochen findet Schur Arbeit, in einem mittelständischen | |
Unternehmen in Leingarten, das Lkws ausrüstet, dort ist er heute | |
Abteilungsleiter. Als in der Firma 1995 Entlassungen drohen, setzt sich | |
sein Meister für ihn ein. „Das war vielleicht ein Punkt, wo ich mich | |
angekommen fühlte“, sagt Schur nach etwas Nachdenken. „Und als ich meinen | |
Meister geschafft habe, mit Abendschule.“ | |
Er kennt viele, die wieder abgehauen sind, wie sein Kumpel, der Arbeit | |
fand, aber keinen Anschluss. Andere, die erst gar nicht weggegangen und | |
lieber arbeitslos geblieben sind. „Früher war ich da härter im Urteil als | |
heute“, sagt Schur. „Wenn ich was erreichen will, muss ich mich bewegen.“ | |
Dem Bild des „Jammer-Ossis“ hat er nie entsprochen. Das Thema nervt ihn | |
ohnehin. | |
Das hat vielleicht mit seiner Herkunft zu tun. Er kommt aus einer Familie, | |
die in und mit der DDR gut zurechtkam. Der Vater war Parteimitglied, der | |
Onkel – „der Täve“ Schur – Volkskammerabgeordneter und dazu als | |
Rennradfahrer und Weltmeister eine Berühmtheit in der DDR. Zu Hause wurde | |
das Neue Deutschland gelesen, Politik ansonsten ausgespart. In Magdeburg | |
nahm Schur im [2][Herbst 89] an Demonstrationen teil – politisch | |
organisiert war er nicht. „Es gab keine Situation, in der ich dachte, ich | |
muss das Land verlassen.“ | |
Trotzdem bricht er im Sommer 1991 auf. Kristina, seine spätere Frau, lernt | |
Schur gleich zu Beginn kennen – sie ist die Tochter seines ersten | |
Vermieters. Heute leben sie in Leingarten und haben drei Kinder: 8, 15, 17 | |
Jahre alt. Die Liebe ist sicherlich ein wesentlicher Faktor, warum Schur | |
sich voll und ganz auf den Westen einlässt. | |
## Schwiegerfamilie aus Ungarn | |
Und auch hier, ein weiterer biografischer Zufall, der ihm hilft: Die Mutter | |
seiner Frau kommt aus Ungarn. Regelmäßig fahren sie nach Budapest, „ich | |
habe mich da immer wohl gefühlt, es gab viele Ähnlichkeiten“. Kristina | |
Schur sagt nach dem Treffen am Telefon: „Wir kannten die Ost-Mechanismen, | |
wir haben vieles verstanden.“ | |
Spielt die unterschiedliche Sozialisation heute noch eine Rolle? Nein, sagt | |
Kristina Schur, 48, sie unterrichtet Deutsch und Englisch. Nach kurzem | |
Nachdenken fügt sie hinzu, „vielleicht in der Kindererziehung. Er ist der | |
Strengere. Und ich finde das Autoritäre nicht immer angemessen.“ | |
Beide tun sich schwer mit einem Teil der ostdeutschen Verwandtschaft, es | |
gibt Familie in Magdeburg und Chemnitz, bei Einzelnen kursieren die | |
Verschwörungstheorien der Rechten, andere lehnen die angebliche westliche | |
Arroganz oder Einmischung ab. „Früher habe ich da mehr Offenheit erlebt“, | |
stellt Kristina Schur fest. „Obwohl es ihnen gut geht, wird das Positive | |
nicht gesehen. Da wird mit zweierlei Maß gemessen.“ | |
Auch Holger Schur berichtet von quälenden Diskussionen, über die | |
Flüchtlingspolitik, Ausländer. „Ihr habt doch gar keine, sage ich immer.“ | |
Oft steigt er dann aus den Diskussionen aus. „Ich komme da nicht ran.“ | |
## Das „Heilig's Blechle“ | |
Am Marktplatz in Heilbronn lässt ein blauer BMW den Motor aufjaulen und | |
braust davon. „Das ist Heilbronner Kultur“, amüsiert sich Schur. „Ich | |
dachte schon, das wäre ausgestorben.“ Dass im Land der Autobauer das | |
„heilig Blechle“ so viel zählt, also „wer was fährt“, dieses Statusde… | |
habe ihn anfänglich irritiert. „Es sind verschiedene Mentalitäten“, sagt | |
Schur. „In der DDR war man froh, dass man überhaupt ein Auto hatte.“ Gab es | |
dafür dort mehr Gemeinschaftsgefühl? – „Nein. Sie sind schon gesellig | |
hier.“ | |
Gegenüber vom Café stehen mehrere Polizeiwagen, versprengte Trupps von Pro- | |
und Anti-Türkei-Demonstranten sind in der Stadt unterwegs. Der Platz mit | |
historischer Rathausfassade und Kilianskirche ist ein Mischmasch aus Alt | |
und Neu, Heilbronn wurde zu großen Teilen im Zweiten Weltkrieg zerstört. In | |
der Stadt leben viele Menschen mit türkischen Wurzeln – und mit russischen. | |
Insgesamt macht der Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund fast 50 | |
Prozent aus. Der Kulturenmix gefällt Schur, Integration heißt für ihn, | |
„sich einbringen“. | |
Hat er manchmal Sehnsucht nach seiner alten Heimat? Ein klares „Nein“. | |
Seine Geschwister und Eltern leben in Magdeburg, der Kontakt ist gut. Schur | |
überkommen dort weder Beklemmungen noch wehmütige Anwandlungen. | |
Diskussionen gibt es jedes Mal, sagt Schur. Vor allem seine Frau diskutiere | |
viel mit seinen Eltern. „Aber ich glaube, mein Schwiegervater diskutiert | |
nicht gern mit mir“, sagt Kristina Schur und lacht. „Du hast nicht in dem | |
System gelebt“, heißt es dann. „Ich glaube, da spielt viel Verdrängung | |
mit“, sagt sie. Ihr Mann hält es auch für eine „Generationenfrage“. | |
Geredet wird in dieser Familie, gestritten in Maßen. „Wenn er genauer | |
nachdenkt“, sagt Schur über die Gespräche mit seinem Vater und Onkel, „da… | |
sind das mehr Geschichten, wie es früher war, und nicht, warum es so war.“ | |
Sein Vater habe seine Stasiakte nicht einsehen wollen. Auch er hat seine | |
Akte nie beantragt. Als sich vor Jahren ein Onkel als Stasispitzel outete, | |
sorgte das für einen Riss in der Familie. | |
## Der „Täve“ | |
Trotzdem, auf den alten „[3][Täve]“ Schur, den Rennrad-Weltmeister und | |
ehemaligen Volkshelden, lassen sie nichts kommen. Trotz seines unbeirrten | |
Festhaltens an der DDR, seiner Verteidigung des Mauerbaus und | |
Schießbefehls, seiner Aussagen zum Sportdoping. „Er ist sich treu | |
geblieben“, sagt Holger Schur. „Er hängt an den alten FDJ-Idealen, aber er | |
lebt sie auch.“ | |
Es ist gut gegangen bei Holger Schur. Er ist angekommen. Das verdankt er in | |
erster Linie sich selbst, seiner offenen, ruhigen Art, vielleicht auch | |
einer gewissen Strenge mit sich selbst. Für seinen Kumpel, mit dem er einst | |
nach Eppingen gezogen war und der bald wieder nach Magdeburg ging, gilt das | |
nicht. Seine Geschichte lässt sich nicht mehr erzählen. Als er das letzte | |
Mal zu Besuch kommen wollte, verunglückte er tödlich auf der Autobahn. | |
10 Nov 2019 | |
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## AUTOREN | |
Sabine Seifert | |
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