# taz.de -- Umgang mit dem Sterben: Letzte Worte | |
> Judith Grümmer nimmt mit todkranken Menschen Hörbücher auf. Die wollen | |
> den Kindern etwas hinterlassen: ihre Rezepte, ihre Geschichten, ihre | |
> Stimme. | |
Bild: Vergangenes Jahr gab Grümmer ihren Job auf, um in Vollzeit als Audiobiog… | |
Rodder taz | In Judith Grümmers Wohnzimmer steht ein Stuhl für besondere | |
Gäste. Er hat gerundete Armlehnen und ein weißes Polster aus Lammfell. Wer | |
auf ihm sitzt, hat am Esstisch den besten Blick: aus dem Fenster, auf die | |
Koppel, über die Eifel. „Manchmal fliegt der Rotmilan vorbei“, sagt Judith | |
Grümmer. Sie bemerkt es daran, dass ihre Gäste kurz innehalten und dem Tier | |
hinterherschauen. Die Pause schneidet sie dann später aus der Tonaufnahme | |
raus. | |
Kerstin Leonard möchte sich heute nicht ablenken lassen. Sobald Judith | |
Grümmer das Aufnahmegerät startet, schließt sie die Augen. In letzter Zeit | |
fällt es ihr schwer, sich zu konzentrieren. Leonard, die eigentlich anders | |
heißt, spricht mit ruhiger Stimme ins Mikrofon, erzählt vom „Kleinen Lord�… | |
den sie sich seit ihrer Kindheit um Weihnachten herum immer anschaut, und | |
vom Osterfrühstück, bei dem der Hefezopf nicht fehlen darf. | |
Grümmer räuspert sich: „Darf ich Sie da ganz kurz unterbrechen? Haben Sie | |
das Rezept im Kopf?“ Leonard nickt, zählt ihrer Tochter die Zutaten auf. | |
„Du erinnerst dich vielleicht, liebe Lena, dass ich ein paar Mal den Zucker | |
vergessen habe. Da war der Hefezopf dann nicht ganz so süß.“ | |
Judith Grümmer nimmt mit jungen Menschen, jungen Müttern und Vätern, die | |
schwerst erkrankt sind, ganz persönliche Hörbücher auf. An ihrem Esstisch | |
in der Eifel oder am Krankenbett auf der Palliativstation lässt sie die | |
PatientInnen erzählen. Vom ersten Schultag, dem ersten Kuss, der ersten | |
großen Liebe. Vom Verhältnis zu den Eltern, Kindheitsurlauben, von | |
Erfolgen, Krisen, Meilensteinen. Am Ende stehen [1][mehrstündige | |
Audiobiografien] als Vermächtnis an die Hinterbliebenen. In den meisten | |
Fällen richten sich die Hörbücher an die noch jungen Kinder. | |
## Deutschlands einzige Audiobiografin | |
Judith Grümmer, die viele Jahre als Journalistin beim Deutschlandfunk | |
gearbeitet hat, beschreibt sich als die interessierte Fremde im Zug, der | |
man sich anvertraut, weil sie nicht bewertet, nicht therapiert und | |
irgendwann aussteigen muss. „Und bevor ich das tue, drücke ich meinem | |
Mitfahrer noch ein Hörbuch in die Hand.“ | |
Heute ist Kerstin Leonards dritter Tag in der Eifel. Als sie das grüne Tor | |
hinter sich ins Schloss fallen lässt, geht Grümmer ihr entgegen, fragt, wie | |
die Nacht war. Leonard hat wenig geschlafen. „Es hat noch ganz schön | |
gearbeitet gestern“, sagt sie und kündigt gleich an, noch ein Kapitel | |
ergänzen zu wollen. Leonard ist 39 Jahre alt, Heilpädagogin und lebt mit | |
Mann und der sechsjährigen Tochter Lena in Ostwestfalen. Vor fünf Jahren | |
wurde bei ihr Brustkrebs diagnostiziert, seit Januar weiß sie, dass er | |
gestreut hat. Die Metastasen in den Knochen bedeuten, dass ihre Krankheit | |
unheilbar ist. | |
Die Arbeit an dem Hörbuch empfinde sie zwar als emotional anstrengend, | |
zugleich mache sich Entspannung in ihr breit. “Zu wissen, das ist das, was | |
bleibt, lässt mich mich momentan sehr zur Ruhe kommen“, sagt sie. | |
Leonard stieß vor ein paar Wochen durch die WDR-Reportage „Menschen | |
hautnah“ auf das Projekt und griff gleich zum Hörer. Seitdem ist sie | |
Teilnehmerin einer Pilotstudie der Uni Bonn. Judith Grümmer und der | |
Direktor für Palliativmedizin der Uniklinik, Lukas Radbruch, [2][forschen | |
seit 2017 zur Wirkung der Audiobiografiearbeit]. Die RheinEnergie-Stiftung | |
übernimmt die Kosten der Hörbücher für Menschen aus NRW. | |
Die Idee für das Projekt kam Grümmer schon einige Jahre früher; seit 2004 | |
hat sie neben ihrem Hauptberuf immer wieder Hörbücher aufgenommen. Im | |
vergangenen Jahr gab sie ihren Job auf, um das in Vollzeit zu tun. Sie ist | |
Deutschlands einzige Audiobiografin. Noch. Denn seit September werden 15 | |
JournalistInnen an der Bonner Akademie für Palliativmedizin ausgebildet. | |
## It takes a village | |
Judith Grümmer bietet Leonard Kaffee und ein Brötchen an, die winkt ab. Das | |
Frühstück im Ferienhaus sei reichhaltig, und überhaupt, Vera, „die hat das | |
so gut gemacht“. Vera Schönberger gehört die Ferienwohnung am Ende der | |
Straße, alle ProjekteilnehmerInnen übernachten dort. Sie berechnet keine | |
Gebühren, wenn Grümmers Gäste kurzfristig absagen. Der Wirt schmeißt Leute | |
raus, die dumm gucken, wenn jemand ohne Haare dasitzt. Und der Schreiner | |
hat Judith Grümmer eine Bank vors Haus gebaut, auf die die Abendsonne so | |
schön fällt. Das Projekt ist auf das Dorf übergeschwappt. | |
Kerstin Leonard nimmt auf dem lammfellgepolsterten Stuhl Platz und schlägt | |
ihren Collegeblock auf. Sie möchte mit dem kurzen Kapitel anfangen, das ihr | |
gestern noch eingefallen ist. Grümmer startet das Aufnahmegerät, Leonard | |
schließt die Augen. | |
Grümmer liebt, dass es bei den Aufnahmen keinen „keinen Cut, keinen | |
Schnitt, keine Sendeminuten wie im Radio“ gibt. Ihre Hörbücher werden | |
zwischen anderthalb und 16 Stunden lang. Manche ErzählerInnen holen weit | |
aus, müssen mehr erklären, wenn etwa Zeitgeschichte hineinspiele, sagt | |
Grümmer. Wie es war, in der DDR aufzuwachsen. Wie es war, als polnische | |
Spätaussiedlerin nach Deutschland zu kommen. | |
In der vergangenen Nacht hat Grümmer für Kerstin Leonards Geschichte eine | |
Dramaturgie entwickelt. Und Vorschläge für den Titel hat sie auch gefunden: | |
„Eigene Wege gehen“, „Jede Zeit hat ihren Wert“, „Der Fluss des Leben… | |
„Das Leben ist da, um gelebt zu werden.“ Es sind Zitate von Kerstin | |
Leonard; der gefallen Nummer 1 und 4 am besten. Grümmer schlägt eine | |
Kombination vor: „Eigene Wege gehen – Das Leben ist da, um gelebt zu | |
werden.“ Leonard nickt. „Ja, das ist es.“ | |
## Geschichten, die selbst der Papa nicht kennt | |
Sie breitet die Seiten vor sich aus, wirkt zufrieden. Von über 100 Kapiteln | |
nimmt der Krebs etwa vier ein. „Wir feiern hier das Leben“, sagt Grümmer. | |
Das Hörbuch sei ein Zukunftsgeschenk für die Kinder, keine Dokumentation | |
einer Krankheitsgeschichte. „Es soll Spaß machen.“ | |
Das Inhaltsverzeichnis sprechen sie gemeinsam ein, ausnahmsweise im Stehen. | |
Grümmer gibt die Betonung vor, Leonard spricht nach. Von „Wie meine Eltern | |
sich kennengelernt haben“ über „Sommer '97“ bis „Was ich jetzt noch tun | |
muss“. Auf ihre To-do-Liste hat Grümmer zuletzt “Titelmelodie kleiner Lord… | |
notiert. “Solche Spielereien bieten sich an, es soll ja ein Hörgenuss | |
werden!“ | |
Fürs Vorwort setzt sich Kerstin Leonard wieder hin, schlägt den | |
Collegeblock auf und überfliegt die ersten Sätze. Sie schließt die Augen | |
und redet minutenlang völlig frei. „Ich möchte“, sagt sie ins Mikrofon, | |
„dir, liebe Lena, mit dem Hörbuch Ansichten, Ideen und Denkanstöße mit auf | |
dem Weg geben und Geschichten erzählen, die selbst der Papa noch nicht | |
kennt.“ Hin und wieder bricht ihre Stimme, doch sie fängt sich jedes Mal. | |
Für das Intro braucht Judith Grümmer ein Lied mit langen Instrumentalparts. | |
Sie schlägt „Das Leben ist schön“ von Sarah Connor vor. „Als ich das Li… | |
das erste Mal gehört hab, dachte ich, wow, woher kennt die das Projekt?“, | |
sagt Grümmer. Connor singt, dass sie auf ihrer Beerdigung keine Trauerreden | |
hören, keine Tränen sehen will. Lieber „'nen Heißluftballon, auf dem | |
riesengroß steht, das Leben ist schön, auch wenn es vergeht“. Sie hören | |
sich das Lied in voller Länge an. Schließlich nickt Leonard, „Das Leben ist | |
schön“ soll ihr Hörbuch eröffnen. | |
Grümmer weiß aber auch: Es ist nicht immer alles Sarah Connor. Sie hat | |
todkranke Menschen erlebt, die auf ihrem Stuhl mit dem Lammfell nicht nur | |
das Leben feiern wollen. Und können. „Man darf hier weinen, schreien, | |
Rechenschaft ablegen, Angehörige um Verzeihung bitten, mir im übertragenen | |
und im wahrsten Sinne des Wortes vor die Füße kotzen“, sagt sie. Ihre | |
Aufgabe sei es, nicht zu bewerten, aber zu beruhigen und bloß keine | |
Missverständnisse entstehen zu lassen. Mutwillige Kränkungen kämen fast nie | |
vor: „In den Hörbüchern wird keine dreckige Wäsche mehr gewaschen – nich… | |
weil ich es nicht zulassen würde, sondern weil die Menschen sich aufs | |
Wesentliche konzentrieren.“ | |
Manche ihrer ProjektteilnehmerInnen müssten auch erst lernen, über sich | |
selbst zu reden. „Es gibt Menschen, die brauchen das Hörbuch besonders | |
dringend noch zu Lebzeiten, weil es für sie der Schlüssel zur Kommunikation | |
ist.“ | |
Andere versuchen, die Fertigstellung hinauszuzögern, melden sich immer | |
wieder mit Kleinigkeiten, wollen Passagen neu einsprechen. Sie haben Angst, | |
dass sie sterben werden, wenn das Hörbuch fertig ist. Und das komme ja auch | |
immer wieder vor, sagt Grümmer. Diese ProjekteilnehmerInnen seien oft in | |
Wirklichkeit gar nicht fit gewesen: „Es war die Arbeit an dem Hörbuch, die | |
sie hat aufblühen lassen. Da werden nochmal richtig Kräfte mobilisiert.“ | |
Auch Kerstin Leonard hat sich vor der Fahrt in die Eifel Sorgen gemacht. | |
„Ich dachte, du machst jetzt dieses Hörbuch und was kommt dann? Wenn ich | |
wieder zu Hause bin, muss ich mich neu sortieren und gucken, was schaffe | |
ich noch? Was will ich noch?“ Und was nimmt sie mit? Den Mut, mit der ein | |
oder anderen Person noch einmal das Gespräch zu suchen. Gelassenheit, dass | |
da jetzt etwas ist, was bleibt. „Und das Gefühl, zufrieden zu sein, und | |
dass ich, so wie ich bin, richtig bin.“ | |
## Für Öffentlichkeitsarbeit fehlt die Zeit | |
Was Judith Grümmer belastet, sind nicht die vielen jungen Eltern, deren | |
Geschichten sie hören darf. Es sind diejenigen, denen sie absagen muss. Für | |
die sie zu spät kommt. Die, weil sie nicht aus Nordrhein-Westfalen sind, | |
die Kosten selber tragen müssen und das nicht können. Über ihren | |
Stundenlohn sagt Grümmer nur, dass sie weniger nimmt als die meisten | |
Handwerker. Sie will den Förderetat schonen, um daraus so viele Hörbücher | |
wie möglich zu produzieren. | |
Wenn es bald 15 KollegInnen gibt, könnte zwar mehr Menschen der Wunsch nach | |
einer Audiobiografie erfüllt werden, doch braucht es dafür Finanzierung von | |
außen, durch Stiftungen, öffentliche Zuschüsse, die Krankenkassen. „Nicht | |
die Familien sollen das bezahlen müssen. Das ist der falsche Weg.“ | |
Manchmal glaubt sie, die Zeit ist noch nicht reif. „Vielleicht ist das wie | |
mit dem ersten Computer? Den wollte doch auch keiner haben, oder?“ Es ist | |
für sie schwierig zu begreifen, dass ihr Projekt nach so vielen Jahren | |
immer noch nicht nachhaltig ist. Aber für Öffentlichkeitsarbeit, dafür, | |
alle Stiftungen in Deutschland abzutelefonieren, fehlt ihr die Zeit. | |
Grümmer wünscht sich zudem eine an das Hörbuch geknüpfte Betreuung der | |
Angehörigen. Immer wieder wenden sich Hinterbliebene an die Frau, der ihr | |
geliebter Mensch damals in der Eifel so viel erzählt hat. Grümmer hört auch | |
ihnen zu, gibt Rat, mehr geht nicht. „Ich bin die Fremde im Zug, aber ich | |
muss auch irgendwann aussteigen.“ | |
30 Oct 2019 | |
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## AUTOREN | |
Leonie Gubela | |
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