Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Hermann Seiberth im Porträt: Der alte Mann und die Kiefern
> Hermann Seiberth ist Alt-68er, Gärtner und Berlins ehemaliger
> Gartenbaudirektor. Jetzt lebt er auf einem verwunschenen Grundstück in
> Zehlendorf.
Bild: Der Anthroposoph Hermann Seiberth in seinem Garten in Zehlendorf
Der Boden ist hammerhart – buchstäblich. Hermann Seiberth, 76 Jahre alt,
muss Hammer und Meißel ansetzen, damit er 32 Arten Blumenzwiebeln unter die
Erde bekommt. Unter einer dünnen Erdschicht auf einem Straßeninselchen in
der Zehlendorfer Waldsiedlung, auch Papageiensiedlung genannt, liegen
Nachkriegstrümmer, Schlacke und Steine; daraus soll im Frühjahr eine
Blumenwiese werden. Aber Widerstände ist das frühere Kriegskind gewohnt.
„Widerstände sind verkleidete Helfer“, sagt der anthroposophisch
orientierte Gärtner und lacht spitzbübisch. Wer weiß, vielleicht blühen
Tulpen und Narzissen üppiger, wenn sie Widerstände im Boden überwinden
müssen.
Seiberth wuchs im schwäbischen Denkendorf bei Esslingen auf. „Es war schön,
im Wald und mit dem Wald groß zu werden. Ich wollte unbedingt Förster
werden“, erzählt er, während er in seinem Siedlungshaus Tee kredenzt. Doch
mit 15 Jahren, nach der mittleren Reife, galt er dafür als zu jung und
wurde Lehrling und Gärtnergeselle in Friedhofs- und Landschaftsgärtnereien
in Esslingen, Stuttgart und der Schweiz. Wie Henry Thoreau in „Walden“ habe
er nahe Winterthur in einer Holzhütte der Baumschule gelebt, „ohne Wasser,
Strom, Heizung. Im Winter war die Bettdecke zugeschneit und das
Zahnputzwasser gefroren. Ich fand dieses Einfache toll.“
Mit der Archäologin und Altorientalistin Dörte Köhler-Seiberth, die er
1966 in einem Singekreis kennenlernte, lebt er hier immer noch recht
einfach. Ihre acht Kinder, allesamt ehemalige Waldorfschüler, sind aus dem
Haus. Sie sind Arzt, Chirurgin, Höhenretter, Organisationsberater,
Philosoph, Künstlerin und Kulturwissenschaftlerin geworden. Ihr Wohnzimmer
ist vollgestopft mit Büchern, Bildern, Blumensträußen, Stoffzwergen und
Musikinstrumenten. Ein alter Kachelofen wärmt den Rücken. Das 340
Quadratmeter große Grundstück rund um das blaue Bruno-Taut-Haus, das früher
der Schauspieler Theo Lingen bewohnte, wird von alten Kiefern beschirmt und
beschützt. Das verwunschene Biotop beherbergt nach Seiberths Zählung
insgesamt 300 Tier- und Pflanzenarten von A wie Aronstab bis Z wie
Zauberstaude. Beerensträucher und Obstbäume säumen den Weg. Bienen krabbeln
aus einem halben Dutzend Bienenstöcken. Kaninchen mümmeln. Ein
plätschernder Teich, bewohnt von Libellen, ist Schauplatz einer Symbiose
zwischen Muschel und Fisch: Die Teichmuschel spuckt ihre Larven aus, die
sich an die Schuppen des Bitterlings heften. Im Gegenzug legt die
Bitterlingsfrau ihre Eier in die Muschel, und diese brütet sie aus.
1964, berichtet Hermann Seiberth weiter, begann er in Westberlin an der
damaligen Königlichen Lehranstalt zu studieren. Ein Professor machte damals
Pflanzenversuche mit Licht; eine schattenwerfende Kiefer störte ihn, also
holte er eine Fällgenehmigung bei der Unteren Naturschutzbehörde ein. Als
morgens die Baumfäller anrückten, saß der Student Seiberth in der Kiefer.
Und verkündete, er komme erst herunter, wenn der für die Genehmigung
Verantwortliche komme und diese zurücknehme. „Die Kiefer steht heute noch“,
sagt er und lacht.
## Spezialist für das Unmögliche
Der Mann in der Kiefer wusste damals nicht, dass seine Kletteraktion der
Schlüssel für seinen Berufserfolg war. Nach Abschluss eines Zweitstudiums
der Garten- und Landschaftsarchitektur an der TU, wo er in die
1968er-Bewegung geriet und als Fachschaftssprecher Reformen durchsetzte,
riet ihm ein Freund, sich auf eine Referendarsstelle in der
Senatsverwaltung für Bauen und Wohnen zu bewerben. Der Abteilungsleiter war
derselbe, der damals die Fällgenehmigung zurückgenommen hatte. Er sagte, er
habe Seiberth ausgewählt, weil er im Baum gesessen hatte. „Dem hat meine
Initiative gefallen“, freut sich der Erzähler.
Vielleicht gefiel ihm auch Hermann Seiberths Liebe zu Bäumen. Als der Orkan
„Xavier“ 2017 über Berlin fegte, knickte er auch in der Papageiensiedlung
zahlreiche alte Kiefern um. Seiberth beschloss, auf eigene Kosten neue zu
pflanzen, da er die Langsamkeit der Behörden beim Nachpflanzen kannte.
Zweimal grub er eine Reihe Kiefernsetzlinge an jenem öffentlichen Weg
entlang, der an seinem Grundstück vorbeiführt. Zweimal nacheinander riss
ein Unbekannter alle Bäumchen wieder aus – Motiv unklar. Beim dritten Mal
kaufte Seiberth Kiefern, die schon zwei Meter hoch und deshalb nicht mehr
einfach herauszuziehen waren. Sie stehen immer noch.
Der Bewohner der Papageiensiedlung sieht sich selbst als „Papagei in der
Verwaltung“ und „Spezialist für das Unmögliche“. In seiner nächsten
beruflichen Station als Gartenamtsleiter im Wedding ließ er 1975
Blumensamen in die Mittelstreifen der Straßen säen und verbot das Mähen.
„Die Leute konnten sich in diesen Blumenwiesen verstecken“, sagt er
strahlend. Der Leiter des Tiefbauamtes wollte dort jedoch Parkplätze bauen.
„Ich sagte ihm: Das geht nicht, da fährt doch bald die Straßenbahn. Er
darauf: Die gehört doch der DDR. Ich: Nicht mehr lange. Er: Typisch
Naturschützer. Mit beiden Beinen in der Luft.“
Mit beiden Beinen auf der Erde führt Seiberth übers Grundstück, dessen
kiefernbeschirmter Holzzaun von außen ein wenig wie die Ponderosa Ranch aus
der US-Serie „Bonanza“ wirkt. An einer Stelle hat er an der Innenseite der
Holzwände einen japanischen Tempel gebaut, in dem er täglich eine
Teezeremonie absolviert. Mit Zen-Buddhismus und Sufismus kennt er sich gut
aus, aber seinen „Meister“ sieht er seit 1970 in Rudolf Steiner. Dem sei es
darum gegangen, „das Geistige im Menschen mit dem Geistigen im Weltall zu
verbinden“.
## Biodynamische Landwirtschaft
Der nicht unumstrittene Anthroposophie-Gründer ersann auch biodynamischen
Landbau ohne Pestizide, und Seiberth versuchte als Gartenbaudirektor in der
Senatsverwaltung Giftfreiheit für öffentliche und private Grünflächen
durchzusetzen, obwohl es damals noch keine Rechtsgrundlage dafür gab. Mit
einigen Tricks gelang ihm das halbwegs – ein konsequenteres Pestizidverbot
einschließlich Glyphosat wird aber erst jetzt in den Ausschüssen des
Abgeordnetenhauses verhandelt.
Auch im Grunewald hinterließ er mit dem „Konzept florengerechter Wald“, das
er mit Forstdirektor Uwe Meierjürgen entwickelte, deutliche Spuren.
Grundidee: „Man sollte nur solche Pflanzen und Bäume fördern, die der
Standort selbst hervorbringt. Die vorhandenen Kräfte im Boden sollen sich
selbst zur Erscheinung bringen dürfen.“ Die Mehrheit der Berliner Förster
aber war nicht begeistert, dass da ein vielschichtiger Mischwald wachsen
sollte.
Seiberth führt weiter durch die Bäume seines Gartens zu einer weiträumigen
mongolischen Jurte. Die ließ er nach einer Dienstreise aus Ulan-Bator mit
der Transsibirischen Eisenbahn hierherbringen. Sie wurde zum Treffpunkt für
die Kinder der Gegend, auch seine eigenen Kinder feierten dort Feste und
Geburtstage. Als eine Nachbarin im Dezember 2018 einen „lebendigen
Adventskalender“ in der Siedlung organisierte, bei dem jeden Tag ein
anderer Haushalt seine Tür für Nachbarskinder öffnete, las er dort zusammen
mit anderen Märchen vor.
Märchenhaft war ebenfalls, was an der 40 Jahre lang unbetretenen Grenze
zwischen West- und Ostberlin an Bäumen und Pflanzen herangewachsen war. Am
Anhalter Bahnhof kartierte ein von Seiberth 1985 beauftragter Biologe rund
1.300 Pflanzenarten – es war die artenreichste Fläche der ganzen Stadt.
Sogar Kuriositäten wie die Spanische Höhlenspinne fanden sich dort – „sie
war wohl irgendwann mit der Bahn angereist und hatte in einem Kellerschacht
überlebt“. Seiberths Leute wollten die Fläche zum Naturschutzgebiet
erklären, aber die Bahn bestand auf der Wiederherstellung des
Süd-Güterbahnhofs. „Die hatten schon eine Fällgenehmigung für die Bäume.
Und dann entdeckte eine Mitarbeiterin von mir, dass das
Planfeststellungsverfahren keine rechtliche Grundlage hatte. Das ganze
Verfahren platzte, und die Bäume stehen heute noch.“
## Frühpension nach Schlaganfall
Nicht weniger märchenhaft erschien auch das Ende einer internationalen
Konferenz im November 1989: Dort tauschten sich Umweltfachleute aus Berlin,
Warschau, Prag, Sofia, Bukarest, Moskau und anderen Städten sowie ein
bärtiger Umweltaktivist namens Matthias Platzeck aus. „Und dann platzte die
Nachricht vom Fall der Mauer in die Konferenz. Wir sind sofort hingefahren
und haben sie mit Meißeln bearbeitet.“ Mit Unterstützung seines damaligen
Dienstherren, dem CDU-Umweltsenator Volker Hassemer, ließ Seiberth sich als
Beamter freistellen, besorgte Geld und wurde Gründungsdirektor der bis 2017
existierenden Europäischen Akademie für städtische Umwelt, einem
grenzübergreifenden Bildungsträger für stadtökologische Fragen, und Teil
der Europäischen Akademie in Grunewald.
1993 ereilte den Vielbeschäftigten ein Schlaganfall: „Der hat mich aus
meinem goldenen Hamsterrädchen gekippt“, sagt Seibert. Er erholte sich,
ging aber mit 50 Jahren in Frühpension. Und begann nun mit dem Gärtnern im
Sozialen: Nach entsprechenden Ausbildungen arbeitete er als Heilpraktiker
für Psychotherapie, Organisationsberater, Auditor und Mediator. 1999 wurde
er Mitbegründer der anthroposophischen Akademie Vaihingen und 2000 der
Petrarca-Akademie für Landschaftskultur.
Der Blick fällt auf die alten Kiefern in seinem Garten mit ihren
zahlreichen Vogelkästen: Knorrig und widerstandsfähig sind sie. So wie der
Mann im Baum.
17 Oct 2019
## AUTOREN
Ute Scheub
## TAGS
Anthroposophie
Rudolf Steiner
Garten
Öko
Waldorfschule
Ökologie
Schwerpunkt AfD in Berlin
## ARTIKEL ZUM THEMA
CO2-neutrale Siedlung in Berlin: Insel mit ’nem prima Klima
Die BewohnerInnen der Papageiensiedlung in Berlin-Zehlendorf wollen
CO2-neutral leben. Dabei könnte auch die Deutsche Wohnen helfen.
Waldorfschulen werden 100 Jahre alt: Auswärts beliebt, zuhause umstritten
Im Ausland sind Waldorfschulen äußerst populär. In Deutschland scheiden
sich an ihnen die Geister. Ein Glückwunsch zum Jubiläum.
Seit 200 Jahren wird ökologisch gedacht: Der Mensch und die Fäkalie
Das Berliner Ausstellungsprojekt „Licht Luft Scheiße“ zeigt, wie alt die
Ökologie ist und was sie mit der Lebensreformbewegung zu tun hat.
Kolumne Geht’s noch?: Adolf soll seinen Namen tanzen
Eine Waldorfschule hat das Kind eines AfD-Politikers abgelehnt. Die
volksgemeinschaftliche Empörung darüber ist das Beunruhigendste daran.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.