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# taz.de -- Gesellschaftliche Ächtung in Nigeria: Schande den Kinderlosen
> Endlich hat Zulayhatu Babangida einen Sohn bekommen. Sie hat Glück, denn
> wer kinderlos bleibt, wird in Nigeria ausgegrenzt.
Bild: Zulayhatu Babangida mit ihrer Familie
Abuja/Gurara taz | Als Saidu Muhammed seinen Laden im nordnigerianischen
Gurara aufschließt, regnet es in Strömen. Die Tropfen trommeln auf das
Wellblechdach, und der Mann mit grauem Bart und schwarzem Bubu hat
Schwierigkeiten, gegen den Lärm anzusprechen. Als die Metalltür endlich
aufgesperrt ist, zeigt er auf die weißen vollgestellten Regale. Das hier
sei kein gewöhnlicher Laden, sondern die Al-Ehisan Tradomedical Clinic,
sagt er stolz. Überall stehen Plastikflaschen in allen Größen, in denen
ölige Flüssigkeiten abgefüllt sind. In kleinen Dosen bietet er Pülverchen
in Orange und Gelb an.
Ein Fach ist besonders vollgestopft. Aus diesem zieht Muhammed eine kleine
Plastiktüte mit schwarzen Krümeln heraus. Auf dem pinken Etikett sind zwei
Skelette abgebildet. Die Tüte knistert in Muhammeds großen Händen. „Das ist
mein bestes Medikament, das ich besonders häufig verkaufe.“ Mit ihm lassen
sich, so erzählt Saidu Muhammed, die Geister Aashika und Aashik behandeln.
„Wenn diese Frauen oder Männer heimsuchen, können sie keine Kinder
bekommen. Damit die Medizin wirkt, muss ein kleines Feuer entfacht werden.“
Aus welchen Kräutern er das Mittel herstellt, sagt er nicht, sondern
lächelt nur. „Das bleibt mein Geheimnis.“ Ein Tütchen kostet 1.000 Naira,
umgerechnet 2,50 Euro, von denen er jede Woche mehrere verkauft.
Kinderlosigkeit klingt in Nigeria wie ein Widerspruch. Mit 200 Millionen
Menschen ist es Afrikas bevölkerungsreichster Staat, der jährlich um knapp
vier bis fünf Millionen Einwohner wächst. Jede Frau bringt statistisch
gesehen 4,8 Kinder auf die Welt. Und die sind im Alltag allgegenwärtig: in
den Straßen, den oft völlig überfüllten Schulen und Kindergärten, in
Kirchen, auf Mofas und in Minibussen.
„Dieses Land liebt Kinder, wir lieben Kinder“, sagt Oladapo Ladipo „umso
größer sind persönliches Leid und gesellschaftliches Stigma für Paare, die
keine Kinder bekommen können.“ Ladipo ist Gynäkologe und Präsident der
Gesellschaft für Reproduktions- und Familiengesundheit (ARFH) und auf
Familienplanung spezialisiert. Neben Auszeichnungen in dunklen Rahmen
hängen zahlreiche Kinderfotos in seinem Büro in der nigerianischen
Hauptstadt Abuja.
## Jedes vierte Paar bleibt kinderlos
Wie viele Paare in Nigeria betroffen sind, lässt sich nur schätzen.
Mitunter wird davon ausgegangen, dass es jedem vierten Paar nicht gelingt,
innerhalb eines Jahres ungeschützten Geschlechtsverkehrs ein Kind zu
zeugen. Gynäkologen zufolge sind die Zahlen in den vergangenen Jahren
gestiegen. Laut Ladipo gebe es dafür zahlreiche Gründe. Bei Frauen seien
das Infektions- und Sexualerkrankungen. Mitunter ist auch ein
Schwangerschaftsabbruch außerhalb einer Klinik und ohne Ärzte dafür
verantwortlich, dass eine erneute Schwangerschaft ausbleibt. Bei Männern
kann eine Mumpserkrankung zur Zeugungsunfähigkeit führen.
Mediziner beobachten einen globalen Trend: Auch wenn in Nigeria bis heute
44 Prozent der Mädchen vor ihrem 18. Geburtstag verheiratet werden,
verschiebt sich in der Mittel- und Oberschicht das Geburtsalter nach
hinten. Das liegt an längeren Ausbildungszeiten sowie der hohen
Jugendarbeitslosigkeit. Wer keinen Job hat, kann sich die Familiengründung
schlichtweg nicht leisten. Sexuell aktiv sind Jugendliche und junge
Erwachsene trotzdem, was bei ungeschütztem Geschlechtsverkehr zu
Erkrankungen führen kann.
## Mit Gebeten für ein Kind
Zulayhatu Babangida und ihr Mann Babangida Ahmed, die in Chachi im
Bundesstaat Niger leben, haben sehr früh geheiratet. Sie war nicht einmal
volljährig, er Mitte 20. Damals waren sie sicher, dass sie bald Kinder
haben werden. Doch nichts klappte. 14 Jahre lang haben sie verzweifelt auf
einen Sohn oder eine Tochter gewartet.
An ihre kinderlose Zeit will die 31-jährige Zulayhatu Babangida lieber
nicht erinnert werden. Auf die Frage danach schaut sie verschämt auf den
ausgetretenen Teppichboden. „Ich habe gebetet. Mit Gebeten hat mich auch
meine Familie unterstützt“, sagt sie so leise, dass man sie kaum verstehen
kann. In ihrem Schlafzimmer ist es dunkel, denn der Strom ist in der
Kleinstadt mal wieder ausgefallen. Da noch Regenzeit ist, weht ein angenehm
kühler Wind durch die offenen Fenster in den Raum. Über ihrem Bett hat
Zulayhatu Babangida ein Moskitonetz gespannt. Auf dem Tischchen daneben
stehen ein Fernseher, ein DVD-Player, Cremes, Körperpuder zwei
Thermoskannen – und seit einigen Monaten auch Milchpulver, Babyöl und
Feuchtigkeitstücher.
Sie sind für Sohn Muhammadu Auwal, dessen Geburt im vergangenen Jahr eine
Erlösung für das Paar war. Mittlerweile ist er ein knappes Jahr alt. Seine
Mutter hat ihm eine kleine Jeans und ein pinkes T-Shirt angezogen. Am
späten Nachmittag ist er müde und schläft oft ein. Zulayhatu Babangida kann
kaum die Augen von dem Kleinen lassen und streicht vorsichtig immer wieder
über seine Finger. Für sie und ihren Mann ist er nach all den Jahren ein
großes Wunder.
Babangida Ahmed hat sich auf die Bettkante gesetzt. Auch er ist vernarrt in
seinen Sohn. „Ich möchte ihm gerne eine gute Ausbildung geben und alles für
ihn tun, was möglich ist.“ Nach und nach erzählt er, was sie alles getan
haben, um eine eigene Familie zu gründen. „Wir waren bei Ärzten und haben
uns untersuchen lassen. Wir wollten wissen, warum es bei uns nicht klappt“,
sagt Ahmed. Nach Angaben von Oladapo Ladipo sind unerfüllte Kinderwünsche
ein Hauptgrund, wenn ein Gynäkologe konsultiert wird. In drei von fünf
Beratungen geht es darum. Allerdings kommen längst nicht alle Paare
zusammen in die Praxen. Selbst innerhalb einer Beziehung wird oft nicht
offen über Unfruchtbarkeit gesprochen.
## Künstliche Befruchtung ist für viele zu teuer
Für Zulayhatu Babangida und ihren Mann Babangida Ahmed war eins nach
Beratungsgesprächen jedoch schnell klar: Eine künstliche Befruchtung kam
nie in Frage, weil diese unbezahlbar gewesen wäre. Möglich ist das in
Nigeria seit 1998. Damals kam im Nisa Hospital von Abuja, Hannatu Kupchi
auf die Welt, Nigerias erstes Reagenzglas-Baby. Vor allem in der Hauptstadt
und den Metropolen Lagos und Port Harcourt bieten mittlerweile Dutzende
Krankenhäuser Fruchtbarkeitsbehandlungen an. Neben den privaten
Einrichtungen sind es in Abuja auch zwei staatliche. Die unterschiedlichen
Behandlungsmethoden kosten je nach Aufwand bis zu einer Million Naira –
umgerechnet rund 2.500 Euro. Es ist der Zweijahres-Lohn eines Fahrers oder
einer Putzfrau. Krankenversicherungen, die dafür aufkommen, gibt es nicht.
Dass Fruchtbarkeitskliniken teuer sind, bestätigt Gynäkologe Oladapo
Ladipo. „Alle Medikamente müssen importiert werden.“ Dazu kommen hohe
Kosten für die Unterhaltung der Kliniken. Neben Mieten sind das vor allem
enorme Ausgaben für Dieselgeneratoren, da die Stromversorgung ständig
zusammenbricht.
Dennoch ist das Geschäft mit der Fruchtbarkeit lukrativ, was die wachsende
Zahl der Kliniken belegt. Erst Mitte August hat wieder eine neue Station im
Abujaer Stadtteil Utako eröffnet. Ein Interview möchte die behandelnde
Ärztin dort nicht geben, da sie fürchtet, es könne ihr als unerlaubte
Werbung ausgelegt werden. Sie bietet jedoch einen Rundgang durch die Räume
an.
Die Flure sind sauber. Eine Krankenschwester zeigt die modernen Zimmer, die
mehr an ein Mittelklassehotel als eine Klinik erinnern. Fast alle sind
Einzelzimmer, die mit Fernsehern, Kühlschränken und Klimaanlagen
ausgestattet sind. Die Übernachtung kostet 20.000 Naira – gut 50 Euro.
Neben einem Restaurant im Erdgeschoss bietet die Klinik Zimmerservice an.
Eins fällt jedoch auf: Das Wartezimmer, in dem ein großer Bildschirm an der
Wand hängt, ist fast leer. Die Patienten sollen einander nicht begegnen.
## Meist wird der Frau die Schuld gegeben
Trotz moderner Behandlungsmethoden darf von einer künstlichen Befruchtung
niemand wissen. Bis heute wird oft der Frau die Schuld an der
Kinderlosigkeit gegeben. Ihr wird vorgeworfen, dass sie dem Mann gar keine
Kinder gebären wolle. Oder sie wird als schlechte Person dargestellt, die
von bösen Geistern besessen sei. Welche Beschimpfungen sich Zulayhatu
Babangida hat anhören müssen, sagt sie nicht. Auf die Frage presst sie die
Lippen aufeinander und schüttelt kurz den Kopf. Auch ihr Mann nennt keine
Details. „Man lernt, nicht auf das Gerede zu hören und sein Ding zu
machen“, sagt er knapp.
Früher waren zahlreiche Kinder für Familien lebensnotwendig, sagt der
Familienplanungsexperte Ladipo. „Sie arbeiteten auf den Feldern und wurden
zu Kriegszeiten als Soldaten eingesetzt. Kinder waren eine Versicherung.“
Bis heute versprechen sie sozialen Status und Ansehen in der Gesellschaft.
Nach der Geburt des ersten Kindes werden Frauen mit Mama und dem Namen
ihres Sohnes oder ihrer Tochter angesprochen und erhalten so einen Titel
innerhalb der Gemeinschaft. Jeder Smalltalk dreht es sich bald um Kinder.
Häufig sind es die Eltern und Schwiegereltern eines Paares, die sofort nach
der Hochzeit sehnlichst auf ein Enkelkind warten, dabei unangenehme Fragen
stellen und zahlreiche Tipps geben. Einen davon hat sich Babangida Ahmed
immer wieder anhören müssen: Heirate doch eine zweite Frau, die dich zum
Vater macht. Wie es seiner Frau Zulayhatu dabei geht, hat niemand gefragt.
Nach dem Koran dürfen Männer bis zu vier Frauen heiraten, und bis heute ist
Polygamie in Norden des Landes weit verbreitet. Auch prominente Politiker
sind mit mehreren Frauen verheiratet und leben das Modell öffentlich vor.
## Auch eine Lösung: die Mehrehe
Ahmed schüttelt jedoch den Kopf. Für ihn kam es nie in Frage, eine zweite
oder dritte Frau zu heiraten. „Das wollte ich nicht“, sagt er. Seine Frau
sagt dazu nichts. Was nach einer einfachen Lösung für Männer klingt, sorgt
in den Familien oft für Stress, Druck und Konkurrenz zwischen den Frauen
und Kindern. Noch vor einer Generation war die Vielehe auch in nicht
muslimischen Familien verbreitet. Vereinzelt wird bis heute in christlichen
Familien Polygamie praktiziert, sagt Oladapo Ladipo. „Es hängt sehr von der
Bildung ab.“
Babangida Ahmed und seine Frau betonen immer wieder, dass sie sich auf
Gebete verlassen hätten, die letztendlich erhört wurden. Dafür werben
allerdings weniger Moscheen, sondern zahlreiche Kirchen. Die große Mehrheit
der Nigerianer beschreibt sich als religiös oder sehr religiös. Vor allem
charismatische Freikirchen bieten spezielle Gebetskreise für Kinderlose an.
Das sind weniger Selbsthilfegruppen, in denen Betroffene ihre Erfahrungen
austauschen und sich gegenseitig Mut zusprechen. Vielmehr versprechen
Prediger: Wer wirklich betet, der wird erhört. Nichts sei unmöglich. Gott
entscheide über die Kinder. Auf ein Leben ohne eigenen Nachwuchs werden
Paare indes nirgendwo vorbereitet. Diese Möglichkeit scheint nicht zu
existieren.
Hinter vorgehaltener Hand wird von Zeremonien berichtet, die traditionelle
Heiler anbieten. Die Rede ist von langen und intensiven Gebeten, die mit
Tänzen verbunden werden. Mitunter fallen die Teilnehmer in Trance. Manchmal
werden spezielle Getränke mit Kräutern verabreicht. Wirklich sprechen will
darüber aber niemand.
In Gurara schüttelt auch der Ladenbesitzer Saidu Muhammed vehement den
Kopf. „So etwas mache ich nicht. Ich arbeite nur mit Kräutern.“ Ein
Widerspruch zum Islam ist das für den Muslim nicht. „Im Koran heißt es in
mehreren Büchern, dass Kräuter eingesetzt werden.“
## Handel mit Neugeborenen
Der unbedingte Kinderwunsch treibt den Handel mit Neugeborenen an. Vor
allem im Süden Nigerias deckt die Polizei regelmäßig sogenannte
Baby-Fabriken auf. Erst Anfang Oktober wurden 19 schwangere Frauen aus
einer solchen Anstalt befreit. Sie waren mit der Aussicht auf einen Job in
die Wirtschaftsmetropole Lagos gelockt und dort von mehreren Männern
vergewaltigt worden. Anschließend wurden sie bis zur Entbindung in ein Haus
gesperrt. Nach Polizeiangaben würden die Jungen für 1.400 und Mädchen für
830 US-Dollar verkauft – Jungen sind beliebter als Mädchen.
Eine Möglichkeit wird nach Ansicht des Gynäkologen Ladipo jedoch viel zu
oft außer Acht gelassen. Paare mit Kinderwunsch sollten über eine Adoption
nachdenken. Statistiken dazu gibt es nicht. Auch sind Prozedere und
Wartezeiten sehr unterschiedlich geregelt. Aus islamischer Sicht ist eine
Adoption allerdings nicht erlaubt. Es gibt lediglich die Möglichkeit,
Kinder von Verwandten und Freunden großzuziehen und die Rolle des Paten zu
übernehmen. „Dabei“, sagt Ladipo, „gibt es so viele Kinder, die dringend
Eltern bräuchten.“
14 Oct 2019
## AUTOREN
Katrin Gänsler
## TAGS
Nigeria
Kinderwunsch
Polygamie
Studiengang Medizin
Schwerpunkt Abtreibung
Nigeria
Geburt
Islam
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