# taz.de -- Buch über erotisches Erbe der Muslime: Verklärte islamische Roman… | |
> Der Theologe und Blogger Ali Ghandour möchte zurück in die islamische | |
> Vormoderne. Am Elend der Gegenwart ist nur eine schuld: die westliche | |
> Moderne. | |
Bild: In einer dualen Frau-Mann-Welt verkleiden Jungen sich als Frauen, um ande… | |
BERLIN taz | Gegenwärtig fällt die muslimisch geprägte Lebensweise vor | |
allem durch ihren verkrampften Umgang mit Fragen von Lust und Sexualität | |
auf. Ein Umgang, der hauptsächlich die Frau einem moralisierenden bis | |
gewalttätigen Regulations- und Überwachungsregime unterwirft, während für | |
den Mann großzügiges Laisser-faire gilt. | |
Diese Schamhaftigkeit sei eine Entwicklung jüngeren Datums, die von einem | |
falschen Verständnis religiöser Fundamentalien des Islam geprägt sei, so | |
der muslimische Theologe und als Aufklärer gehandelte Blogger Ali Ghandour | |
in seinem neuen Buch „Liebe, Sex und Allah. Das unterdrückte erotische Erbe | |
der Muslime“. Dagegen beschwört er eine dezidiert lustfreundliche und | |
tolerante Tradition herauf, durch die sich die islamische Welt der | |
Vormoderne ausgezeichnet habe. | |
Die aus der christlichen Moral bekannte Dämonisierung von Körper und Lust | |
findet sich weder im Koran noch in den Hadithen. Vielmehr wird hier das | |
sexuelle Begehren als Teil der von Gott geschaffenen Natur des Menschen | |
begriffen und konnte deswegen auch theologisch gesehen nicht negativ sein. | |
Lüste konnten genussvoll ausgelebt werden, solange sie sich im religiös und | |
rechtlich sanktionierten Rahmen bewegten. | |
Ghandour erörtert zum einen religiöse und rechtliche Rahmenbedingungen und | |
Debatten über die Frage des Erlaubten und Verbotenen im islamischen Reich | |
der Lüste. Themen wie Ehe und Polygamie kommen hier zur Sprache, legitime | |
Genussbeziehungen jenseits der Ehe und Prostitution, die trotz koranischen | |
Verbots weniger unterbunden als pragmatisch gesteuert wurde. Und auch | |
homoerotische Beziehungen zwischen Männern und Männern und Knaben waren | |
weit verbreitet und wurden trotz rechtlicher Verbotsnormen großzügig | |
toleriert bis gefeiert. | |
## Der Diskurs über den Umgang mit den Lüsten | |
Zum anderen fokussiert der Autor Diskurse über Körperlichkeit und | |
lustfördernde Praktiken, die mit großer Offenheit in erotischer Literatur, | |
sufistischer Mystik und kamasutraähnlichen Sexratgebern erörtert wurden. | |
Die islamische Welt, so wird Ghandour nicht müde zu betonen, lasse sich | |
realiter nicht auf religiöse Dogmen(befolgung) reduzieren. In Anlehnung an | |
den Islamwissenschaftler Thomas Bauer attestiert er den Muslimen der | |
Vormoderne eine hohe „Ambiguitätstoleranz“, vor allem, wo es um ihren | |
alltagspraktischen Umgang mit religiösen Ge- und Verboten ging. | |
So entsteht die Vorstellung einer libertären muslimischen Ethik im Umgang | |
mit den Lüsten, die jedoch, wie der Autor eingangs selbst feststellt, nicht | |
repräsentativ ist. Vielmehr handelte es sich um Diskurse, die lediglich von | |
einer Minderheit überwiegend männlicher intellektueller Eliten und | |
Oberschichten der urbanen Zentren geführt wurden und also über deren | |
Lebenswandel Auskunft geben. | |
Auch die Tatsache, dass die hier beschworene Lusttoleranz für Frauen nur | |
äußerst bedingt galt, macht die Repräsentativität des beschworenen Bildes | |
einer islamischen Laisser-faire-Moral nicht größer. Trotzdem vermittelt der | |
Autor immer wieder den Eindruck, es handele sich um eine jahrhundertealte, | |
gesellschaftsweit verbreitete „Tradition“ der Toleranz. | |
## Der Traditionsbruch | |
20 Seiten reichen Ghandour, um den Hauptverantwortlichen auszumachen, der | |
für den Untergang dieser jahrhundertealten, lustfreundlich-ambigen | |
muslimischen Tradition genauso verantwortlich ist wie für den Aufstieg | |
einer religiös fundierten, repressiven Sexualmoral, dank derer Länder wie | |
Saudi-Arabien auch heute noch vor allem ihre weibliche Bevölkerung | |
drangsalieren. „Durch die Kolonialherrschaft kam es zu einem | |
Traditionsbruch, von dem die Muslime sich bis heute nicht erholt haben“, | |
schreibt er, und viel differenzierter wird es auch nicht mehr. | |
Das Buch mündet in einen islamischen Opferdiskurs, bei dem die Forderung | |
nach einer differenzierteren Betrachtungsweise der Realitäten hinter großen | |
Allgemeinplatzbegriffen nicht mehr zählt. Es entsteht das von Kenntnis | |
kolonialer Herrschaftsrealität wenig getrübte Bild einer handstreichartigen | |
Gleichschaltung, die in der muslimischen Welt um 1900 stattgefunden zu | |
haben scheint, Gleichschaltung an „christlich-viktorianische“ | |
Wertvorstellungen, an Körper und Lüste, pathologisierende Wissenskategorien | |
und an eine Moderne, die sich vor allem auf westlich importierten | |
Eindeutigkeitsterror reduziert. | |
Genauso wenig wie die islamische Welt gab es jedoch „die | |
Kolonialherrschaft“ im Singular. Und sie bemächtigte sich auch nicht der | |
kompletten islamischen Welt, um sie reibungslos nach ihrem eigenen | |
Werteverständnis zu formen. Saudi-Arabien blieb weitgehend frei von | |
kolonialer Herrschaft und entwickelte trotzdem den wohl bösartigsten, | |
religiös legitimierten, auf Geschlechterapartheid fußenden totalitären | |
Eindeutigkeitsterror, den wir heute kennen. | |
## Aus feministischer Sicht reaktionär | |
Dies allgemein unter Reaktion auf „die westliche Moderne“ zu subsumieren, | |
ist bemerkenswert reduktionistisch. Ganz davon abgesehen, dass Muslime hier | |
bar jeder eigenen Handlungsfähigkeit erscheinen, die bloß auf vermeintlich | |
allmächtige europäische Kolonialmächte reagieren. Wie insgesamt deren | |
Durchsetzungsfähigkeit im Blick auf die sexuellen Sitten und Gebräuche der | |
von ihnen Unterworfenen erheblich überschätzt erscheinen. Das passiert, | |
wenn man zwischen Diskursen und Realität nicht mehr unterscheidet. | |
Es bedürfte größerer historischer Expertise, um Einflussprozesse | |
kolonialherrschaftlicher Mächte und westlicher Wertbegriffe auf islamische | |
Gesellschaften angemessen abzuhandeln. Postkoloniale Diskursanalyse in | |
betagter Edward-Said-Tradition reicht da sicher nicht. Ghandour möchte zwar | |
seine Ausführungen nicht als den Vergleich einer blühenden Vergangenheit | |
mit einer problemreichen Moderne verstanden wissen. Genau dieser Eindruck | |
entsteht jedoch. Letztlich geht es auch um eine Apologie der islamischen | |
Glaubensordnung, über deren ganz eigenständigen Sexismus und hausgemachte | |
Frauenfeindlichkeit man hier nur wenig liest. | |
Aus feministischer Perspektive erscheint „Liebe, Sex und Allah“ vor allem | |
reaktionär. Der beschworene Traditionsbruch zwischen Vormoderne und | |
Gegenwart in der muslimischen Welt und Kultur ist aus weiblicher Sicht | |
nicht ganz so brechend. Sexismus und Frauenverachtung sind auch dieser | |
Religion inhärent und immer schon inhärent gewesen, wie ein Blick in Koran | |
und Hadithe deutlich machen kann. Die Frau ist dem Manne untertan – auf | |
diesem Glaubensgrundsatz ruht die islamische Religion. Es bedarf nicht | |
weniger als einer sexuellen Revolution, um damit wirklich zu brechen. | |
Ghandour dagegen wünscht sich eine gläubig fundierte Reformierung der | |
muslimischen Lebensweise unter Bezug auf vormoderne islamische Ideen, die | |
er für progressiv und tolerant hält. Die Forderung einer sexuellen | |
Revolution hat er kürzlich in einem ZDF-Gespräch als politische Floskel | |
abzutun versucht. Ihm sei unklar, auf welchen theologischen Erklärungen und | |
ethischen Normen eine solche Revolution basieren solle. Er begreift gar | |
nicht, dass es bei einer solchen Revolution ja genau um das Gegenteil geht: | |
die Ablehnung eines Lebens auf gläubigen Stützrädern. | |
19 Aug 2019 | |
## AUTOREN | |
Eva Berger | |
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