# taz.de -- Sexuelle Selbstbestimmung: Uterus mit Reißzähnen | |
> 6.000 Menschen haben in Berlin gegen das Recht auf Abtreibung | |
> demonstriert. Tausende Feminist*innen haben diese blockiert. | |
Bild: “Antifeminismus sabotieren – Abtreibung legalisieren“ lautete das M… | |
Fast eine Stunde steht der [1][sogenannte Marsch für das Leben] still. | |
Schon kurz nach dem Start der Demonstration von AbtreibungsgegnerInnen am | |
Samstagnachmittag verhindern AktivistInnen mit einer Sitzblockade jedes | |
Weiterkommen und schaffen es, die Route des Marsches durch mehrere | |
Blockaden zu verkürzen. Um überhaupt auf die Route zu gelangen, hatten die | |
FeministInnen sich offenbar als Teilnehmende des Marschs ausgegeben. | |
Anderthalb Stunden nach dem Start sind die [2][AbtreibungsgegnerInnen] noch | |
keinen Kilometer weit gekommen. | |
Gegen 13 Uhr hatten sich bei strahlender Septembersonne direkt vor dem | |
Portal des Reichstags mehrere tausend Jugendliche, Ehepaare, Nonnen und | |
Priester in langen Gewändern versammelt. Mit mehr als 20 Bussen sind sie | |
aus dem gesamten Bundesgebiet angereist, zur bundesweit größten Demo der | |
sogenannten Lebensschutzbewegung aus christlichen FundamentalistInnen, | |
Konservativen und Rechten, die unter anderem gegen Schwangerschaftsabbrüche | |
mobil macht. | |
Die Seitenstraßen sind abgesperrt, um vor GegendemonstrantInnen | |
abzuschirmen, hin zum Brandenburger Tor reiht sich Polizeiwanne an Wanne. | |
Dass die Auftaktkundgebung auf dem Platz der Republik stattfindet, ist ein | |
klares Signal: Die Politik soll endlich handeln. „Abtreibung ist nie ein | |
Bagatelldelikt“, ruft Alexandra Linder, Vorsitzende des Bundesverbands | |
Lebensrecht. Zwar betont sie stoisch die Überparteilichkeit des Marsches, | |
spricht sich aber mehrfach gegen Vorstöße aus der SPD aus, die Paragrafen | |
218 und 219a doch noch zu kippen. Und Präsenz zeigen vor allem Mitglieder | |
von Union und AfD. | |
[3][AfD-Spitzenfrau Beatrix von Storch] ist da. Grußworte schickten neben | |
der antifeministischen Publizistin Birgit Kelle oder dem Vorsitzenden der | |
Werteunion Alexander Mitsch auch mehrere Bundestagsabgeordnete der Union, | |
darunter Philipp Amthor und Sylvia Pantel. Linder betont, wie gut es sei, | |
„dass wir uns immer weiter vernetzen“: Die Bewegung will expandieren. | |
## Fundis wünschen sich zurück ins Mittelalter | |
Am Vorabend der Demo steht deswegen die Pro-Life-Aktivistin Maria | |
Grundberger am Mikrofon und eröffnet in der St. Elisabeth Kirche in | |
Berlin-Schöneberg den „Impact Congress“, der junge Leute für die Sache | |
gewinnen soll. „Da habe ich zu der Frau gesagt: Ich habe ein Kind, aber | |
keins auf dem Gewissen“, sagt Grundberger. Das Publikum klebt förmlich an | |
ihren Lippen. Sie erzählt, wie sie Frauen in letzter Sekunde vor einer | |
Klinik abfangen und überzeugen konnte, nicht abzutreiben. Von den bösen | |
Blicken, die ihr die Krankenschwestern zuwarfen und von ihrer | |
Facebook-Timeline, die voll sei mit „glücklichen Familien“, die es ohne | |
ihren Einsatz nicht geben würde. Applaus. | |
Grundberger ist der Stargast des Kongresses von Pro Life Europe und Jugend | |
für das Leben. Sie sei eine Inspiration, sagen die beiden Organisatorinnen. | |
Um in Schulen und Universitäten präsenter zu werden, hat der Kongress | |
gezielt Studierende und SchülerInnen eingeladen. In einem Workshop erklärt | |
ein Jurist, wie man Hochschulgruppen gründen oder sich gegen den ASta | |
durchsetzen könne. Die meisten der rund 50 Teilnehmenden sind aus ganz | |
Deutschland und sogar aus Österreich extra nach Berlin gereist. | |
Die meisten kennen sich, wie sie erzählen, über befreundete | |
Kirchengemeinden oder vergangene Märsche. Auf dem Kongress wollen sie das | |
Image der „christlichen Fundis“ durch Glitzerfarbe auf bunten Plakaten | |
aufmotzen. So richtig Lust auf Basteln hat aber niemand, lieber macht man | |
sich über die GegendemonstrantInnen lustig. „Mittelalter. Das ist auch | |
etwas, das sie oft rufen“, erzählt eine Teilnehmerin. „Aber da denke ich | |
mir: Wenn im Mittelalter Abtreibungen verboten waren, dann möchte ich gerne | |
wieder dahin zurück.“ Die Umstehenden lachen. | |
Gänzlich unvorbereitet möchte man sich den GegnerInnen dennoch nicht | |
stellen. Darum wird der Samstagvormittag genutzt, um die eigenen Argumente | |
zu verfestigen und über rechtliche Fragen oder die „Abtreibungslobby der | |
WHO“ aufzuklären. Dann ziehen die Teilnehmenden gemeinsam los zum Marsch | |
für das Leben. | |
## Weiße Kreuze und Pastelfarben sind Vorgabe | |
Zwischen acht- und zehntausend Teilnehmende sind dorthin laut Veranstalter | |
gekommen, rund 6.000 sind es nach Zählungen des antifaschistisches | |
Pressearchiv- und Bildungszentrums apabiz. Auch einer der Organisatoren des | |
österreichischen Marschs für das Leben ist vor Ort, Alexander Tschugguel, | |
der im Gespräch mit der taz die extremen Einschränkungen des Rechts auf | |
Schwangerschaftsabbrüche in den USA lobt: „Wir fahren weltweit Erfolge | |
ein.“ | |
Gegen 14.30 Uhr setzt sich auf der südlichen Seite der Spree der „Marsch | |
für das Leben“ in Bewegung. Die meisten Teilnehmenden halten sich an die | |
Vorgaben der OrganisatorInnen, nur Material des Bundesverbands zu | |
verwenden: weiße Kreuze und in Pastellfarben gehaltene Schilder, die | |
möglichst positive Botschaften transportieren. Viele singen und halten | |
kleine Plastikföten in den Händen, einige laufen barfuß. Einige Schilder | |
machen gegen die „Abtreibungsärztin Kristina Hänel“ mobil, ein Mann trägt | |
ein T-Shirt, auf dem „Stop the Babycaust“ steht. | |
Schon bei der Auftaktkundgebung haben es die GegendemonstrantInnen immer | |
wieder geschafft, bis auf Rufweite heranzukommen, auch Sprechchöre und | |
Trillerpfeifen sind zu hören. Während sich eine Rednerin auf der Bühne | |
gegen die Pille danach ausspricht und empfiehlt, [4][sogenannte | |
„Gehsteigberatungen“] zu verstärken und „mehr zu beten“, rollen | |
GegendemonstrantInnen in Sichtweite ein gelbes Transparent aus. „75 Tote | |
täglich durch unsicherer Abtreibungen“ steht darauf, doch die Polizei | |
drängt sie schnell ab. Ebenso ergeht es FeministInnen, die es schaffen, mit | |
Transparenten die Bühne zu erklimmen. | |
## Gegendemos verliefen meist abseits | |
Die meisten [5][GegendemonstrantInnen laufen aber abseits] des Marschs. | |
„Ich bin heute auf der Demo, weil wir Leuten wie denen keinen Raum bieten | |
dürfen“, sagt eine junge Frau, die eine Vulva auf ihre Wange gemalt hat. | |
Die 16-jährige Schülerin war am Freitag beim Klimastreik, am Samstag | |
protestiert sie gegen die Kriminalisierung von ÄrztInnen, die darüber | |
informieren, welche Methoden des Schwangerschaftsabbruchs sie anbieten. | |
„Ich kann nicht glauben, dass es im 21. Jahrhundert noch solche Paragrafen | |
im Strafgesetzbuch gibt“, sagt sie. | |
Mit etwa 1.500 anderen Menschen zieht sie unter dem Motto “Antifeminismus | |
sabotieren – Abtreibung legalisieren“ durch Berlin. Aufgerufen dazu hat das | |
queerfeministische Bündnis What the Fuck. Manche tragen bunte Perücken, | |
andere halten Schilder und Transparente, fast alle rufen „My body, my | |
choice – raise your voice“ oder „Kein Gott, kein Staat, kein Patriarchat�… | |
Ein riesiger pinker Uterus mit ausgestreckten Mittelfingern und Reißzähnen | |
thront über der Menge. | |
Am Hauptbahnhof angekommen, schließen sich einige Demonstrierende dem | |
zweiten Protestzug unter dem Motto „Lieben und leben ohne Bevormundung“ an, | |
organisiert vom Bündnis für sexuelle Selbstbestimmung, zu dem unter anderem | |
Frauenorganisationen, Grüne, Linke und Gewerkschaften gehören. Andere | |
versuchen, auf die Route der AbtreibungsgegnerInnen zu gelangen. Etwa 1.200 | |
Menschen setzen sich vom Hauptbahnhof aus in Bewegung, unter ihnen die | |
Linken-Bundestagsabgeordnete Cornelia Möhring und Grünen-Parteivize Gesine | |
Agena. | |
## Kompromiss zum Kotzen | |
Die vielen Demos und Aktionen machten ihr Mut, sagt Möhring der taz. „Wenn | |
sich parlamentarisch noch mal was tun soll, ist es wichtig, dass der Druck | |
nicht nachlässt.“ Agena sagt, ihre Partei wisse, „welche Gefahr von den | |
Fundamentalisten ausgeht“. Diese versuchten, Frauenrechte zurückzudrängen. | |
„Dabei verbinden sich christliche Fundamentalisten mit der AfD und das geht | |
bis ins bürgerliche Spektrum – das sieht man an den Grußworten aus der | |
Union.“ | |
Die SPD hat den Kompromiss im Streit um Paragraf 219a mitgetragen. Gerade | |
die organisierten Frauen in der Partei haben daran harsche Kritik geübt. | |
„Wir finden den Kompromiss zum Kotzen“, sagen zwei Mitglieder der Berliner | |
Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Frauen (ASF). „Wir wollen, dass | |
die SPD da noch mal rangeht.“ | |
Auch Vertreterinnen der [6][„Omas gegen Rechts“] sind gekommen. „Natürli… | |
sind christliche Fundamentalisten Teil einer rechten Bewegung“ sagt eine. | |
„Wir haben schon vor 50 Jahren für das Recht auf Schwangerschaftsabbruch | |
gekämpft“, sagt eine andere. „Dass diese jungen Frauen jetzt auf die Stra�… | |
gehen müssen, damit keine Rückschritte gibt, ist doch unglaublich.“ | |
In einer vorigen Version dieses Artikels wurde als Veranstaltungsort des | |
„Impact Congress“ die Kirche St.-Elisabeth in Berlin-Mitte genannt. Das war | |
ein Fehler. Es handelt sich um die St.-Elisabeth-Kirche in | |
Berlin-Schöneberg. Wir bitten dies zu entschuldigen. | |
21 Sep 2019 | |
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## AUTOREN | |
Dinah Riese | |
Patricia Hecht | |
Lisa Winter | |
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