# taz.de -- Offener Brief an Fridays For Future: Liebe FFF-Aktivist*innen, … | |
> Die Umweltfrage ist ohne einen Systemwechsel nicht lösbar. Kimaaktivisten | |
> wissen das, aber sie stellen die Systemfrage nicht. Ein offener Brief. | |
Bild: „Die Systemfrage zu stellen wird nicht leicht. Es wird viel Kraft koste… | |
… ich würde wirklich gerne [1][mit euch demonstrieren], aber ich kann es | |
nicht. Ich würde gerne „Junggebliebene weiße Männer for Future“ gründen, | |
aber ich kann es nicht. Ich wäre wirklich gerne einmal Teil einer | |
Jugendbewegung, aber ich kann mich euch nicht anschließen. Ihr steht gerade | |
vor einer Grundsatzentscheidung. Der Entscheidung, ob ihr weiterhin das | |
gute Gewissen einer falschen Lebensweise bleiben wollt oder ob ihr euch für | |
einen fundamentalen Umbau dieser Gesellschaft einsetzt. | |
Ihr bezeichnet euch selber gerne als radikal, doch in Wahrheit verharrt ihr | |
auf der Ebene der rein rhetorischen Radikalität. Denn eure Forderungen sind | |
Minimalforderungen, die uns erlauben sollen, weiter so leben zu können wie | |
bislang. In den Medien wird oft der Vergleich mit den 68ern gezogen, | |
aktuell seid ihr aber das Gegenteil der 68er-Bewegung. Damals haben die | |
Jugendlichen die verkrustete Gesellschaft herausgefordert und die | |
Systemfrage gestellt. | |
Sie haben das Wirtschaftssystem angegriffen, alte Familienmodelle | |
aufgebrochen und die Gesellschaft grundlegend verändert. Sie haben die | |
Systemfrage gestellt. Wir profitieren noch heute von den Freiheiten, die | |
damals gegen den Widerstand vieler hart erkämpft wurden. Eure Forderungen | |
gehen aber in eine ganz andere Richtung: sie nutzen vor allem der | |
Verhinderung der Beantwortung dieser Systemfrage. | |
Dabei leben wir in einer wachstumsgetriebenen Ökonomie und müssen die | |
Frage beantworten, wie wir innerhalb dieser die Klimakatastrophe verhindern | |
wollen. Eine wachstumsgetriebene Ökonomie bedeutet: immer mehr Autos | |
besitzen, immer mehr fliegen und immer mehr kaufen. Wie können wir in einem | |
Wirtschaftsmodell des „Immer mehr“ das Klima retten? Die ehrliche Antwort: | |
Es ist unmöglich. Die Umweltfrage ist ohne einen Systemwechsel nicht | |
lösbar. Und das wisst auch ihr. Daher müsst ihr diese Frage in den Fokus | |
rücken. Ich weiß, bei euch gibt es viele, die sie stellen wollen. Gebt | |
ihnen eine Plattform. | |
Wir brauchen eine Alternative zum jetzigen Wirtschaftsmodell, und meine | |
Generation hat in dieser Frage in Gänze versagt. Ich bin 33 Jahre alt. | |
Meine Generation hat die Ökonomisierung der Gesellschaft auf die Spitze | |
getrieben: Wir lassen uns unser Essen [2][per Fahrradkurier nach Hause | |
bringen]. Wir sind die Generation Easyjet, die mal schnell für ein | |
Wochenende nach Rom fliegt. Mit Airbnb haben wir nun selbst das Übernachten | |
bei Fremden durchökonomisiert. Ihr müsst mit unserem Lebensmodell brechen. | |
Wie kann ein solcher Bruch mit dem jetzigen Wirtschaftsmodell aussehen? | |
Sicherlich nicht allein durch eine CO2-Steuer und durch einen Umbau des | |
Energiesektors, wie ihr fordert. Eine CO2-neutrale Gesellschaft ist in | |
einer wachstumsgetriebenen Ökonomie nicht möglich. Nehmen wir das Beispiel | |
der CO2-Steuer beim Fliegen. Eine CO2-Steuer würde die Ärmeren treffen und | |
ihre bereits geringe Mobilität weiter einschränken. | |
## Das ist eure Aufgabe | |
Den Vielflieger würde eine geringe Steigerung der Preise von Flugtickets | |
wiederum nicht stören. Die Party ginge größtenteils weiter wie bislang. | |
Warum verteilen wir nicht Kontingente an Kilometern, die jede Person | |
verfliegen darf? Wir starten erst mit einer recht hohen Anzahl an | |
Kilometern und reduzieren diese dann langsam und stetig. Es wäre ein | |
wirklicher ökonomischer Systemwechsel. | |
Das Beispiel zeigt: Denkt groß, denkt radikal, denkt grundlegend, denkt | |
über den jetzigen Kapitalismus hinaus. Dank eures Alters habt ihr das | |
Privileg des freien Denkens. Stört unser bis zur Perfektion einstudiertes | |
Leben. Das ist eure Aufgabe. Ihr dürft uns das „Weiter so“ nicht durchgehen | |
lassen. Doch eure bisherigen Forderungen spielen uns in die Karten. | |
Durch die fehlende Systemfrage seid ihr ein immanenter Baustein des „Weiter | |
so“. Ohne die Systemfrage seid ihr eine Stütze des falschen Systems. Geht | |
die Party weiter oder bauen wir die Gesellschaft jetzt grundlegend um? Das | |
entscheidet ihr. Werdet endlich radikal. | |
Für diese neue Radikalität müsstet ihr euer politisches Engagement | |
verändern. Ihr könnt euch aktuell auf eine einzelne politische Frage | |
konzentrieren. Aus der eigenen Betroffenheit heraus versucht ihr | |
gesellschaftliche Lösungen zu finden. Meine Generation hat mit der | |
Individualisierung des politischen Engagements angefangen – ihr seid dabei, | |
das zu perfektionieren. Es ist gemütlich, sich mit nur einem Thema in einer | |
weitgehend homogenen Gruppe zu befassen: Man kann die reine Lehre predigen. | |
Der Aktivist – also die individuelle Problemlösung – ist in den vergangenen | |
Jahren zum neuen Star des politischen Engagements aufgestiegen. Er wird | |
mittlerweile gesellschaftlich auf Händen getragen. Ihr seid die perfekte | |
Bewegung für eine durchindividualisierte Generation: instagrammable, frei | |
von Mehrdeutigkeiten und moralisch auf der richtigen Seite. Bislang konnte | |
aber noch niemand sagen, wie aus einem immer individueller werdenden | |
Engagement ein gesamtgesellschaftliches Konzept werden soll. | |
Die Umweltfrage ist nicht ohne die Wirtschaftsfrage zu beantworten. Die | |
Wirtschaftsfrage ist nicht ohne die Gerechtigkeitsfrage zu beantworten. Und | |
die Gerechtigkeitsfrage ist nicht ohne die Umweltfrage zu beantworten. Aus | |
der Kombination aus all dem wird dann irgendwann die Systemfrage. | |
Ich beneide euch. Mit einem Engagement in einer Partei habe ich einen | |
anderen Weg als ihr gewählt. Ich wurde wegen meiner Parteimitgliedschaft | |
schon oft bedroht und beschimpft. Einem Freund wurde an einem Infostand mit | |
dem Hinweis „Danke für Hartz IV“ ein Eimer Wasser über den Kopf geschütt… | |
Welche innerparteiliche Position man für Themen einnimmt, interessiert da | |
draußen niemand. Man ist Teil des politischen Kollektivs und daher auch für | |
alles mitverantwortlich. | |
## Sprengt unsere Parteitage mit neuen Ideen | |
Parteien sind große heterogene Gruppen, die Volksparteien im Besonderen. Da | |
stößt man mit neuen Themen oft auf große Ablehnung. Als ich vor zehn Jahren | |
mit dem Thema Digitalisierung in der SPD ankam, brach auch keine Welle der | |
Begeisterung aus. Bis heute kämpfe ich um Beachtung für das Thema. In einer | |
neuen, jungen Bewegung ist es da sicherlich viel gemütlicher. Der | |
Herausforderung Partei müsst ihr euch aber stellen. Es ist eure Aufgabe, | |
die Parteivorsitzwahl meiner Partei zum Festival der Ideen für Umweltschutz | |
zu machen. | |
Sprengt unsere Parteitage mit neuen Ideen und bringt uns zum Nachdenken. | |
Von euch kommen immer mehr Forderungen, aber [3][ihr kommt nicht in die | |
Parteien] und ihr lasst uns da ziemlich alleine sitzen. | |
Da ihr die Systemfrage nicht beantworten wollt, verharrt ihr derzeit auf | |
der symbolischen Ebene. Ihr dürft vor der UNO sprechen, werdet zu Talkshows | |
eingeladen und bekommt Titelbilder in Magazinen. Es ist gesellschaftlich | |
schick geworden, sich mit euch zu umgeben. Vor einigen Tagen habe ich durch | |
meine „Instagram Stories“ geschaut und da empfahl mir der Sohn von Will | |
Smith einen TED-Talk von euch, wie man Klimaaktivist*in wird. Bei eurem | |
Camp tritt Joko Winterscheidt auf. Aber Veränderung erreicht man nur durch | |
Reibung, durch Widerstand. | |
Wenn ihr Veränderung einfordert und euch alle zujubeln, dann stimmt | |
irgendwas nicht. Ihr sprecht das richtige Problem an, eure Antworten sind | |
aber noch zu klein. Mit dem Beantworten der Systemfrage würde auch euer | |
gesellschaftlicher Applaus abebben, aber ihr könntet diese Gesellschaft | |
dann wirklich verändern. | |
Meine Generation hat in jeglicher Hinsicht gezeigt, wie ihr es nicht machen | |
solltet. Wir hatten alle Möglichkeiten, diese Gesellschaft zum Besseren zu | |
verändern, aber wir haben alles schlimmer gemacht. Der Zufall der Geburt | |
hat die Anfänge des Internets und meine Jugend synchronisiert. Das | |
Internet, als ich es zum ersten Mal kennenlernte, war ein toller Ort: | |
dezentral aufgebaut und anarchisch. Den Namen Mark Zuckerberg kannte kaum | |
einer. Ich war der festen Überzeugung, es wäre unser Woodstock. Aus | |
Gitarrenriffs seien Nullen und Einsen geworden. | |
Das Internet ist meiner Generation aber entglitten. Sein | |
Freiheitsversprechen hat sich ins Gegenteil verkehrt. Wir haben uns um die | |
Gestaltung des Netzes gekümmert und dabei Gesellschaft und Politik | |
vergessen. Wir dachten, das Internet habe eine solche Ausstrahlungskraft | |
auf den Rest der Gesellschaft, dass wir uns einzig und allein darum kümmern | |
müssten. [4][Dann kamen Mark Zuckerberg], Amazon und Google und haben die | |
Systemfrage für uns beantwortet. Euch darf das mit dem Klima nicht | |
passieren, es steht zu viel auf Spiel. | |
Die Systemfrage zu stellen wird nicht leicht. Es wird viel Kraft kosten. | |
Aber ich verspreche euch, es lohnt sich. Und ich verspreche euch: dann | |
gründe ich „Junggebliebene weiße Männer for Future“ und streike mit euch, | |
wenn ich das noch darf. | |
20 Sep 2019 | |
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## AUTOREN | |
Yannick Haan | |
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