# taz.de -- Peggy Parnass über ihr Leben: „Die ganze Welt ist Krieg“ | |
> Peggy Parnass hat noch nie Konflikte gescheut: als große Schwester, | |
> Autorin, politische Stimme. Ein Gespräch über Rache, Freundschaft und das | |
> Alter. | |
Bild: Ist immer noch auf Demos zu finden: Peggy Parnass | |
Peggy Parnass duzt jeden, deswegen ist auch dieses Interview in Du-Form | |
gehalten. Vor dem Interview hat sie zwei Anliegen: dass der Fotograf nicht | |
zu nah an sie herankommt und dass man das letzte Interview mit ihr, das vor | |
zehn Jahren erschienen ist, mitbringt, „um zu sehen, was ich Dir damals | |
erzählt habe“. | |
Peggy Parnass: Hast Du damals Reaktionen auf das Interview bekommen? | |
taz: Nein. | |
Das ist doch trostlos. Man schreibt doch nicht für sich. | |
Wenn drei Leute ihn gelesen und etwas behalten haben, kann das doch | |
reichen. | |
Nee, das ist schön für die drei Leute, aber die andern drei Millionen? | |
Wie geht es Dir mit den Reaktionen auf Deine Texte? | |
Sie sind mir unglaublich wichtig, jedes Wort da drin ist mir wichtig. Ich | |
war nie angestellt, wollte das auch nie anders, aber ich habe diejenigen | |
beneidet, die miteinander arbeiten konnten. Ich habe meine Sachen immer im | |
Alleingang gemacht. | |
Hattest Du nicht Leute, mit denen Du dich austauschen konntest, Peter | |
Rühmkorf zum Beispiel, mit dem Du Theater gespielt hast? | |
Wir haben auch zusammen gewohnt – aber das war lange vorher. Da ging es | |
nicht um meine Texte, sondern um seine. Es gab damals eine Theatergruppe an | |
der Uni, da wollten Peter Rühmkorf und Klaus Rainer Röhl rein, aber da | |
wurde gesagt: „Ja, das könnt ihr gern, aber nicht mit der.“ „Warum nicht… | |
„Die ist Jüdin, mit der nicht.“ Es waren und sind ja noch nicht alle Nazis | |
verschwunden. Und da haben wir eine eigene Theatergruppe an der Uni | |
gegründet. Das ist ja ewig her, 1950. Die Texte von Rühmkorf sind leider | |
nach wie vor aktuell. Die waren wunderbar. Antikriegstexte natürlich. Es | |
war eine sehr, sehr gute Zeit, weil wir alle die Illusion hatten, die Welt | |
verändern zu können. | |
Eine Illusion? | |
Ja leider. Absolut, das siehst Du doch. Wir hatten ja noch die Illusion, | |
etwas verändern zu können. Solange wir das glaubten, war alles leicht. | |
Jetzt ist es so wie das Nachspielen im Skat. | |
Aber Du gehst in Schulen, um die Geschichte Deiner Familie zu erzählen. | |
Neulich war ich auf einem Gymnasium mit dem neuen Film über mich, da warn | |
ein paar Hundert Schülerinnen und Schüler, das war ganz toll. Sie wollten | |
wissen, was ich glaubte, wie es wäre, wenn meine Eltern noch leben würden. | |
Und da habe ich spontan gesagt, dass ich glaube, dass sie mit mir nicht | |
einverstanden wären. Dass sie mich liebten, würde ich voraussetzen, aber | |
immer Angst um mich haben würden: Sie würden sich fragen, was macht sie da, | |
muss das denn sein, so viele Konflikte. | |
Was glaubst Du, was hätten sie gewollt, wie Du lebst? | |
Sie hätten sicher gewollt, dass ich einen Beruf habe, aber einer, der nicht | |
weh tut, der nicht riskant ist, ein Beruf, der mich sehr gut ernährt. | |
Das sind sehr nahe Fragen der SchülerInnen. | |
Die wollen wirklich etwas wissen, das ist auch gut so. Aber es ist | |
schmerzhaft. Als ich nach Deutschland zurückkam, wollte ich mich dringend | |
rächen. | |
Ist das gelungen? | |
Nein. Ich wollte mich an der Waisenhausfrau in Stockholm rächen, bei der | |
mein kleiner Bruder war und die eine Sadistin war. Ich durfte ihn nur alle | |
zwei Wochen am Sonntag sehen, vorausgesetzt, dass sie mich reinließ. Ich | |
bin immer in den vierten Stock raufgerast und da stand sie dann riesengroß | |
und stumm und guckte böse auf mich und dann irgendwann, nach langer Zeit, | |
hat sie immer das Gleiche gefragt: Was willst Du hier? Ich habe immer | |
gesagt: „Ich will zu meinem Bruder.“ Und dann war diese lange, lange Pause | |
und ich wusste nie: Sagt sie: „Komm rein“, oder sagte sie: „Geht nicht“. | |
„Ja, warum nicht?“ „Er ist krank“ oder „Er ist nicht da.“ Aber ich … | |
ihn ja sehen, klitzeklein hinter ihr, er hat geweint und meinen Namen | |
gerufen. Und sie konnte dann entscheiden. Und dann haben wir uns aneinander | |
geklammert und er hat mir alles anvertraut, was inzwischen gewesen war. | |
Aber Du konntest nicht helfen? | |
Nein. Es war furchtbar. Er bekam immer Schläge, für alles, was ich machte. | |
Ich sagte, „wir müssen zu unserm Vormund“, das habe ich erfunden, damit ich | |
ihn rauskriegte aus dem Kinderheim. Dann waren wir entweder Karussell | |
fahren oder Kuchenessen. Wir waren auch im Freien tanzen zu einer | |
Live-Band. Einmal gelang es mir, ihn rauszuholen und in einen Kinderfilm zu | |
gehen, von Walt Disney, Schneewittchen. Aber wir sind immer aufgeflogen und | |
Bübchen wurde immer verprügelt für das, was ich ausheckte. Ich bin dann | |
nach dem Krieg zu ihr nach Stockholm gefahren. | |
Und dann? | |
Wir haben gar nichts gesagt. Sie sah elend aus, nicht mehr stark, nicht | |
mehr gefährlich. Ich war jetzt überlegen. Und ich konnte nichts sagen. Es | |
war das Gleiche bei der Milchfrau um die Ecke rum, die, als Mutti dorthin | |
ging, um für uns Kinder Milch zu holen, sie verprügelt und rausgeschmissen | |
hat. Und geschrien: „An Judenschweine verkaufe ich nicht.“ Da hatte ich mir | |
auch geschworen: „Wenn ich groß bin, dann räche ich mich an ihr.“ Und als | |
ich nach elf Jahren Pause wieder in Deutschland war, bin ich natürlich zu | |
ihr hingegangen in den Milchladen und war sehr, sehr aufgeregt. Der Laden | |
war gut besucht wie immer, ich habe mich an die Wand gelehnt und die ganze | |
Zeit die Frau angeguckt, während sie die Leute bediente. Und sie fing auch | |
an, mich anzusehen, und irgendwann waren keine Leute mehr da und da sagte | |
sie: „Oh, deine liebe Mutter, diese liebe, liebe Frau, wie oft habe ich an | |
sie gedacht“. Ich konnte kein Wort sagen, mir war nur schlecht. | |
Der Hass ist geblieben? | |
Oh ja. So und jetzt mag ich nicht mehr daran denken. Es fällt mir nicht | |
leicht und jetzt habe ich die Schnauze voll. | |
Gab es irgendeine positive Wiederbegegnung nach dem Krieg? | |
Als wir wegmussten, haben die Nachbarn all unsere Sachen unter sich | |
aufgeteilt. Als ich schon viele Jahre in Deutschland war, rief der Sohn von | |
früheren Nachbarn an. Es war der Widerstandskämpfer Tönnies Hellmann, | |
damals Hafenarbeiter. Seine Verwandten hatten ihn gefragt, ob er meinte, | |
dass ich die Küchenleiter zurückhaben möchte, die bei ihnen auf dem Boden | |
stand. Muttis Küchenleiter. Die wollte ich natürlich haben. Seitdem steht | |
sie auf meinem Dachboden. Mein einziges Erbe, bis auf den schönen Namen | |
Parnass. | |
Was Du zu Beginn sagtest, dass sich nichts ändert, geht mir nicht aus dem | |
Kopf. Gab es ein bestimmtes Ereignis, das Dich das hat denken lassen? | |
Ich kann da nicht den Finger drauf legen. Ich weiß nur, dass bei den | |
Veranstaltungen damals alle immer gerufen haben: „Nie wieder Krieg.“ Die | |
ganze Welt ist Krieg. Wenn die sagen würden, wir wollen die Kriege beenden, | |
wäre das ein Vorsatz, den man bejahen kann – aber nie wieder etwas, was | |
permanent da ist? Da ist „nie wieder“ Quatsch. | |
Woran machst Du fest, dass sich nichts geändert hat? | |
Es haben sich Dinge geändert, Dinge, die nicht so schwierig waren, aber | |
nichts Grundsätzliches. Ich habe mich immer für Schwule eingesetzt, und | |
Schwule für mich, Gott sei Dank, ich war ja allein. Die ganzen Jahre, als | |
sie wie Dreck behandelt wurden. Da glaube ich, haben wir schon einiges im | |
Laufe der Zeit bewirkt. Als ich gelesen habe, dass Alice Schwarzer ihre | |
Frau geheiratet hat, habe ich mir überlegt, ob ich sie anrufe und ihr | |
gratuliere, ich fand das sehr gut. Obwohl ich, wenn ich eingeladen werde zu | |
einer Hochzeit, immer schon die Scheidung voraussehe. | |
Warum? | |
Ich glaube mehr an Freundschaft. Und wenn eine Freundschaft enttäuscht | |
wird, finde ich es noch schlimmer, als von einem Liebhaber betrogen zu | |
werden. | |
Ist es Zufall, dass in Deinen Texten mehr männliche Freunde auftauchen? | |
Ich habe mich selbst als Junge empfunden, ich habe jahrelang die | |
Anziehsachen meines Bruders getragen. Mädchen fand ich läppisch, | |
nichtssagend. Pissnelken waren das für mich, die rumgekichert und | |
kokettiert haben. Trotzdem wäre ich auch gerne hübsch gewesen. Meine Mutti, | |
die so liebevoll war, sagte einmal, um mich zu trösten: „Du musst nicht | |
traurig sein, dass du nicht hübsch bist, dafür bist du doch so klug.“ | |
Hat Dich das getröstet? | |
Nö, natürlich nicht. Dass ich klug war, wusste ich selber, und dass ich | |
nicht hübsch war, wusste ich auch. Und ich wusste immer, dass meine | |
Attraktivität für Männer nicht darin bestand, dass ich hübsch bin, sondern | |
dass ich denken kann. | |
Wann hat sich Dein Frauenbild geändert? | |
Als Frauen interessanter wurden, ich hätte beinahe gesagt, zu Menschen | |
wurden. Frauen, die ich auf Demos getroffen habe, Frauen, die politisch | |
engagiert waren. Da habe ich natürlich Frauen entdeckt, die ich wunderbar | |
fand, mit denen ich wirklich befreundet bin. | |
Du hast in einem Interview einmal gesagt: „Ich will nicht nach meinem Alter | |
gefragt werden, sondern nach dem, was mich gerade interessiert.“ Und | |
trotzdem würde ich gern wissen, was sich für Dich mit dem Älterwerden | |
verändert. | |
Ich will das Alter von anderen nie wissen, das interessiert mich gar nicht. | |
Weil es Leute ja auch festnagelt in ein Zu-jung oder Zu-alt. | |
Macht Alter denn einen Unterschied? | |
Wenn ich höre, eine Frau ist 63, dann denke ich: „Mein Gott, ist die alt.“ | |
Und dann: „Ach du Scheiße, ich selbst bin ja beinahe 30 Jahre älter.“ Der | |
Unterschied ist, dass dann die Zeit begrenzt ist. Ich möchte gerne leben | |
und leben und leben. | |
Wird der Körper im Alter ein neues Thema, weil beschwerlicher? | |
Ich habe in meinem Leben nie Sport getrieben, aber getanzt, die Nächte | |
durch, die Tage durch. Ein wunderschöner Tänzer, Brasilianer, ist | |
abgesprungen, als sie auf Tournee waren, um bei mir zu bleiben. Sexuell | |
bestens, ansonsten ein Arschloch, aber wir haben immer getanzt, getanzt, | |
getanzt. Das mache ich immer noch, aber mir ist im Liebesrausch der | |
Lendenwirbel gebrochen worden. Seitdem kann ich ganz schlecht laufen. | |
Auf Demos gehst Du trotzdem. | |
Ich gehe nicht, ich fahre auf dem Wagen. Ich war bei der großen Demo wegen | |
der Menschen im Mittelmeer, die man ertrinken lässt, statt sie zu retten, | |
und dem Mädchen, das immerhin welche retten konnte. Aber daneben ertranken | |
viele und keiner wollte sie an Land lassen. Schrecklich! Die Leute sagten: | |
„So etwas hat man noch nie erlebt.“ Doch, hat man. Wir als Juden haben | |
überall hingeschrieben, bitte lasst uns kommen, wir werden sonst ermordet, | |
das wusste jedes Kind. Nein. Kein Land wollte uns haben. Die ganzen Juden, | |
die ermordet wurden, könnten leben, wenn die Länder nicht dicht gemacht | |
hätten. So neu ist das alles nicht. Aber es ist schön, wenn man überhaupt | |
noch darauf reagiert. | |
9 Sep 2019 | |
## AUTOREN | |
Friederike Gräff | |
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