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# taz.de -- Gesundheitskrise in Venezuela: Zur Mutterschaft gezwungen
> Verhütungsmittel sind knapp in Venezuela, Die Zahl der ungewollten
> Schwangerschaften steigt. Für viele junge Frauen ist das oft
> lebensgefährlich.
Bild: „Ich bin ja selbst noch ein Mädchen“: Nicol Ramírez ist 15 und scho…
Caracas ap | Die Ärztin Saturnina Clemente bringt eines der begehrtesten
Güter in Venezuela in die kleine Klinik: Hormonimplantate zur
Schwangerschaftsverhütung. Davon hören schnell viele in Caucaguita, einem
verarmten Stadtteil der Hauptstadt Caracas. Wer Glück hat, kommt auf eine
Liste, die der Ortsvorstand führt. Die anderen hoffen, dass es noch
Nachschub gibt.
Die erfahrene Ärztin hat 104 der weichen Kunststoffstäbchen dabei, die am
Oberarm unter die Haut geschoben werden. Das wird nicht für alle reichen.
Als Medizinerin an der größten Kinderklinik des Landes weiß sie aus erster
Hand, welche Konsequenzen das für diejenigen hat, die leer ausgehen. „Es
ist ein Gefühl der Ohnmacht, der Frustration“, sagt sie.
Frauen bekommen hier die politische und wirtschaftliche Krise besonders zu
spüren. Ungeachtet der Versprechen der sozialistischen Regierung, jeder
Frau Familienplanung zu ermöglichen, zeigen Erhebungen und Umfragen, dass
es nicht genügend Verhütungsmittel gibt.
Internationale Organisationen wie der Bevölkerungsfonds der Vereinten
Nationen UNFPA hat dieses Jahr mit dem Import Zehntausender
Verhütungsmittel begonnen. Doch die Situation hat sich nicht wirklich
verbessert. „Die Frauen werden schwanger und haben keine Optionen“, sagt
die Frauenrechtlerin Luisa Kislinger. „Sie werden in die Mutterschaft
gezwungen.“
## „Kein Land, um Kinder zu haben“
Nicol Ramírez ist 15 und schon Mutter. Ihr Name steht auf der Liste von Dr.
Clemente. Doch um das Implantat zu bekommen, muss sie einen negativen
Schwangerschaftstest vorweisen. Sie und ihre ältere Schwester rufen
hektisch ihre Mutter an. Sie brauchen sofort 40.000 Bolivar, das sind knapp
drei Euro, für den Test in einem nahegelegenen Labor. „Die Lage in diesem
Land ist keine, um Kinder zu haben“, sagt sie, während sie ihr Töchterchen
auf der Hüfte wiegt. „Ich bin ja selbst noch ein Mädchen.“
Unter dem verstorbenen Präsidenten Hugo Chávez waren die
Unterstützungsleistungen für arme Mütter deutlich erhöht worden. In der
Verfassung von 1999 wurde Frauen unter anderem der volle Zugang zur
Familienplanung versprochen. Doch es ging nur langsam voran. Studien
belegen, dass die Zahl der Schwangerschaften von Teenagern auch unter
Chávez stetig stieg.
Der amtierende Präsident Nicolás Maduro konnte die Agenda seines Vorgängers
nicht vorantreiben. Das Land leidet unter einer verheerenden
Wirtschaftskrise. Für die Frauen kam es noch schlimmer: Erhebungen zufolge
stieg die Müttersterblichkeit zwischen 2015 und 2016 auf über 65 Prozent.
„Unter Maduro haben wir einen nie dagewesenen Rückschlag erlebt“, sagt
Kislinger.
Nachdem Maduro über Jahre hinweg einen humanitäre Krise bestritten hatte,
[1][ließ er kürzlich internationale Hilfe zu]. Ein großer Teil davon
bezieht sich auf Lebensmittel und Medizin. Nur ein Bruchteil geht in den
Bereich Fortpflanzungsgesundheit.
## Geflüchtete Frauen werden angefeindet
Unter den Millionen Venezolanern, die sich zur Flucht ins Nachbarland
Kolumbien entschieden haben, sind Tausende schwangere Frauen. Dort brachten
mehr als 26.000 venezolanische Frauen seit August 2015 Kinder zur Welt. Das
ist eine große Belastung für das ohnehin fragile Gesundheitssystem des
Landes – und es stellt die überwiegend große Gastfreundschaft zunehmend auf
eine Belastungsprobe.
„Wenn ihr euch weiter so fortpflanzt wie bisher, wird es noch schwerer,
euch als Chance für Wachstum und nicht als Problem zu sehen“, [2][schrieb
die bekannte kolumbianische Kolumnistin Claudia Palacios kürzlich].
Ramírez war 14, als sie ihre Schwangerschaft bemerkte. Ihr Freund, der 23
Jahre alt und bereits Vater war, reagierte kühl. Er könne keine weitere
Verantwortung übernehmen, sagte er. Seitdem hat sie nichts mehr von ihm
gehört.
Gerade für junge Mütter unter 15 sind die Risiken groß. Die Gefahr, während
der Schwangerschaft zu sterben, ist doppelt so hoch, wie bei älteren
Müttern. Obwohl Ramirez während der Schwangerschaft medizinisch betreut
wurde, mussten die Ärzte ihr Kind mit einem Notkaiserschnitt holen. Der
Herzschlag des Babys war unregelmäßig geworden. „Sie wurde quasi tot
geboren“, sagt Ramírez mit trauriger Stimme.
In der Klinik von Caucaguita gibt es um 11.30 Uhr keine Verhütungsmittel
mehr. „Die Implantate sind ausgegangen“, ruft einer der Organisatoren in
einem verwaschenen T-Shirt. Knapp 40 Frauen stehen da noch in der
Warteschlange. Einige seufzen. Andere sind wütend.
## Die letzten Glücklichen
Ramírez und ihre Schwester gehören zu den letzten Glücklichen, die noch ein
Implantat ergattern, weil sie Clemente doch noch ihren negativen
Schwangerschaftstest vorweisen konnten. Ihre Mutter hat es irgendwie
geschafft, das Geld dafür aufzutreiben. Drei andere Frauen erfuhren an
diesem Tag, dass sie schwanger sind.
Ramírez zuckt kurz zusammen, als ihr eine Krankenschwester eine
Betäubungsspritze gibt, damit das Implantat schmerzfrei eingeführt werden
kann. Kurz danach gehen die Lichter im Krankenhaus aus. Es ist bereits der
zweite Stromausfall in dem Stadtviertel innerhalb einer Woche.
Ramírez verlässt die dunkle Klinik mit ihrem Baby im Arm, erleichtert zu
wissen, dass sie so schnell nicht wieder Mutter werden wird. „Ich bin nicht
so weit, ein Kind zu haben“, sagt sie, als ihr Baby anfängt zu weinen. „Ich
bin ein 15 Jahre altes Mädchen.“
25 Aug 2019
## LINKS
[1] /Lebensmittelknappheit-in-Venezuela/!5572768
[2] https://www.eltiempo.com/opinion/columnistas/claudia-palacios/paren-de-pari…
## AUTOREN
Christine Armario
## TAGS
Venezuela
Nicolás Maduro
Familienplanung
Gesundheit
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