# taz.de -- Kongress-Partei in Indien: Mitsamt der Dynastie in den Abgrund | |
> Mit Sonia Gandhis Rückkehr ist der Neustart der Kongress-Partei | |
> gescheitert. Dem Land fehlt eine Opposition gegen die | |
> Hindu-Nationalisten. | |
Bild: Feiern zum indischen Unabhängigkeitstag in Jammu | |
NEU-DELHI taz | Ein größeres PR-Desaster ist für eine Partei kaum | |
vorstellbar: Indiens Innenminister Amit Shah von der | |
hindu-nationalistischen BJP hatte gerade den größten Coup seiner Regierung | |
verkündet: die [1][Abschaffung der Autonomie des Bundesstaats Jammu und | |
Kaschmir]. Doch statt dem Schritt beherzt entgegenzutreten, fragte der | |
Fraktionsführer der oppositionellen Kongress-Partei, Adhir Ranjan | |
Chowdhury, vergangene Woche im Parlament erst einmal, ob die Entscheidung | |
tatsächlich eine „interne Angelegenheit Indiens“ sei. | |
Der frühere Spitzenkandidat der Kongress-Partei, Rahul Gandhi, tippte | |
derweil auf seinem Handy herum, während seine Mutter Sonia entgeistert | |
dreinblickte. Innenminister Shah konterte mit voller Wucht: „Kaschmir ist | |
ein integraler Teil Indiens.“ Und: Die Kongress-Partei vertrete die | |
Interessen Pakistans. | |
Die Szene ist symptomatisch für den langsamen Niedergang der | |
Kongress-Partei, die Indien einst in die Unabhängigkeit führte und dann | |
jahrzehntelang regierte. Jawaharlal Nehru, Mahatma Gandhi, Vallabhbhai | |
Patel, Abdul Kalam Azad, Indira Gandhi, Rajiv Gandhi, Narasimha Rao und | |
zuletzt Manmohan Singh sind nur einige der Namen von Kongress-Politikern, | |
die das Bild Indiens als säkularer Vielvölkerstaat geprägt haben. | |
Doch 72 Jahre nach der Unabhängigkeit, die diese Woche gefeiert wird, ist | |
die Partei personell und ideell ausgebrannt. Der Regierung von | |
Premierminister Narendra Modi hat sie so gut wie nichts entgegenzusetzen. | |
Zahlreiche Kongress-Mitglieder sind bereits zu Modis BJP übergelaufen. | |
## „Völlige Ahnungslosigkeit“ | |
Deshalb wollte die Kongress-Partei mit der Wahl eines neuen Vorstands einen | |
Neuanfang wagen. Der ehemalige Kongress-Präsident Rahul Gandhi (49) hatte | |
kurz nach der verheerenden Wahlniederlage gegen die BJP im Mai die einzig | |
vernünftige Konsequenz gezogen und war von seinem Amt zurückgetreten. | |
Doch auch den Neustart hat die Partei nun versemmelt. Statt ein frisches | |
Gesicht an die Spitze zu setzen oder wenigstens eine erfahrene Person, die | |
die Partei in neues Fahrwasser steuern könnte, wählte sie am vergangenen | |
Montag ihre Ex-Chefin Sonia Gandhi (72), die der Partei bereits von 1998 | |
bis 2017 vorstand, zur Interims-Präsidentin. Wie lange dieses Provisorium | |
andauern wird, ist ungewiss. | |
„Das Arrangement schmeckt nach völliger Ahnungslosigkeit, wie man mit der | |
Niederlage umgehen soll“, sagt Suhas Palshikar von der Universität Pune, | |
einer der führenden Politikwissenschaftler des Landes. „Die Wahl Sonia | |
Gandhis repräsentiert im besten Fall Verzweiflung und im schlechtesten den | |
Rückzug aus der Politik.“ | |
Offenbar kann sich vor allem die alte Garde der Partei nicht vorstellen, | |
dass jemand anderes als ein Mitglied der Nehru-Gandhi-Dynastie die Partei | |
zusammenhalten kann. Jüngere Hoffnungsträger wie Sachin Pilot (41) aus | |
Rajasthan oder Jyotiraditya Scindia (48) aus Gwalior, die eng mit Rahul | |
Gandhi zusammenarbeiten, konnten sich daher nicht durchsetzen. | |
## Dynastische Struktur | |
Nach Auffassung von Politikwissenschaftler Palshikar verhindert Sonia | |
Gandhis Rückkehr an die Parteispitze den dringend notwendigen inhaltlichen | |
und organisatorischen Neustart der Partei. Der steht schon seit den 1980er | |
Jahren an. | |
Heute, in einer Zeit, in der Indien von der kraftvollen, rechtsgerichteten | |
BJP regiert wird, die eine völlig andere Vision für das Land hat als | |
Indiens Gründer, ist das Fehlen einer wirkungsvollen Opposition bedenklich. | |
Besonders die dynastische Struktur der Kongress-Partei bietet | |
Angriffsfläche für die BJP, die sich als demokratischere Alternative | |
darstellt, in der nicht nur die traditionelle Elite etwas zu sagen hat. | |
Dabei sollte in einem Land, in dem noch immer zwanzig Prozent der | |
Bevölkerung unterhalb der Armutsschwelle leben und das durchschnittliche | |
Jahreseinkommen bei rund 2.000 US-Dollar liegt, eigentlich Raum sein für | |
eine sozialdemokratische Partei. Doch die Ambitionen der aufstrebenden | |
Mittelschicht vertritt nun die BJP. | |
„Das Problem ist, dass die Kongress-Ideologie die Wähler nicht mehr | |
anspricht“, sagt der Wirtschaftswissenschaftler Mihir S. Sharma von der | |
Observer-Research-Stiftung in Neu-Delhi. „Indien ist ein junges und | |
ungeduldiges Land. Viele Charakteristika des globalen autoritären | |
Populismus sind hier sichtbar. Der Tod der Kongress-Partei würde bedeuten, | |
dass es keine nationale Opposition mehr gibt und dass regionale Identitäten | |
mehr und mehr in Konflikt mit Neu-Delhi geraten.“ Das, sagt er, wäre keine | |
ermutigende Vision für Indiens Zukunft. | |
15 Aug 2019 | |
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## AUTOREN | |
Britta Petersen | |
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