# taz.de -- Konflikt um Kaschmir: „Die Führung steht unter Arrest“ | |
> In Kaschmir bleiben Massenproteste aus. Doch das sollte man nicht als | |
> Zustimmung für ein Ende der Autonomie werten, sagt der indische | |
> Journalist Varadarajan. | |
Bild: Trotz der angespannten Lage feierten die Muslime in Jammu am Montag das O… | |
Der indische Journalist Siddharth Varadarajan („The Wire“) war letzte Woche | |
in Jammu und Kaschmir, nachdem Indiens hindunationalistische Regierung den | |
dortigen Autonomiestatus beendet und den zwischen Indien und Pakistan | |
umstrittenen Bundesstaat aufgespalten hatte. Die taz hat mit ihm nach | |
seiner Rückkehr nach Delhi über die Lage in der Region gesprochen. | |
taz: Herr Varadarajan, wie ist die Lage [1][in Srinagar]? | |
Siddharth Varadarajan: Die Menschen sind verärgert und wütend, aber es gibt | |
für sie keine Möglichkeit, dies friedlich auszudrücken – außer in privaten | |
Gesprächen, weil Internet und Telefonleitungen gekappt sind und | |
Versammlungen von mehr als vier Personen nach dem von der Regierung in | |
Delhi verhängten Versammlungsverbot nicht erlaubt sind. Ich kann sagen, | |
dass ich nicht einen Menschen getroffen habe, der die Maßnahme der | |
Regierung unterstützt. | |
Die [2][BBC hat am Freitag Bilder von Massenprotesten gezeigt], während die | |
Regierung in Delhi sagt, es sei ruhig. Wie haben Sie die Situation erlebt? | |
Ich selbst habe keine Massenproteste gesehen, obwohl die Bilder der BBC | |
natürlich authentisch sind. Das war in einem Distrikt von Srinagar. Ich | |
habe aber auch nichts von anderen Massenprotesten gehört. Was es gibt, sind | |
kleinere Proteste. Es sind ja überall Paramilitärs stationiert. Wenn die | |
sich am Abend zurückziehen, kommen meistens ein paar Jungs raus und werfen | |
Steine. Aber ich betrachte die Abwesenheit von Massenprotesten nicht als | |
Zeichen der Zustimmung. Man muss abwarten, was passiert, wenn die Regierung | |
die Beschränkungen aufhebt. Auf jeden Fall ist es totaler Müll zu | |
behaupten, dass nur 20 oder 30 Leute protestiert haben. | |
Sie selbst sind Ende der Woche nach Delhi zurückgekehrt, um einen Bericht | |
aus einem Krankenhaus zu veröffentlichen. Was haben Sie dort gesehen? | |
Ich war in dem Krankenhaus von Srinagar, das auf die Behandlung von | |
Verletzungen spezialisiert ist, die durch die Schrotkugeln der | |
Gummigeschosse verursacht werden. Dort wurden mindestens 21 junge Männer | |
mit diesen Pellet-Verletzungen behandelt. Nach den Protesten vom Freitag | |
mag die Zahl auf 35 gestiegen sein, genau weiß man das nicht. Mehrere der | |
Opfer hatten ihr Augenlicht auf mindestens einem Auge verloren. Einige | |
sagten mir, die Polizei habe auf sie geschossen, obwohl sie keine Steine | |
geworfen hätten. Ein 15-jähriger Junge sagte, auf ihn und seinen Freund | |
wurde geschossen, als sie auf dem Weg zum Nachhilfeunterricht waren. Jetzt | |
kann er auf dem rechten Auge nicht mehr sehen. | |
Wie sind die Arbeitsbedingungen für Journalisten vor Ort? | |
Es gibt keine Ausgangssperre, ich konnte mich relativ frei bewegen. Am | |
Anfang war es schwierig, ein Transportmittel zu finden, aber dann hat mich | |
doch eine Autorikscha in das Krankenhaus gefahren. An einigen Stellen gibt | |
es Straßensperren, wo einem gesagt wird, dass man einen anderen Weg nehmen | |
muss. Aber das Problem ist, dass man seine Geschichten wegen der Internet- | |
und Telefonsperre nicht schicken kann. Außerdem hat man keinen Zugang zu | |
den relevanten lokalen Gesprächspartnern, weil die alle unter Hausarrest | |
stehen. Ich habe versucht, mit der Tochter von Ex-Ministerpräsidentin | |
Mehbooba Mufti zu sprechen, mit Saifuddin Soz, einem ehemaligen Minister | |
der oppositionellen Kongress-Partei, und einigen anderen. Aber bei allen | |
steht die Polizei vor der Haustür und lässt niemanden rein. Nicht nur die | |
Spitzen der Parteien, also Farooq und Omar Abdullah, Mehboodba Mufti und | |
Sajjad Ghani Lone stehen unter Hausarrest, sondern auch die gesamte | |
mittlere Führungsebene. | |
Wie wird es Ihres Erachtens nach in Kaschmir weitergehen? | |
Das ist schwer zu sagen. Man muss abwarten, wie sich die Lage entwickelt, | |
wenn die Einschränkungen aufgehoben sind. Wahrscheinlich wird die Regierung | |
erst einmal die Feiern zum indischen Unabhängigkeitstag am 15. August | |
abwarten. Die Regierung in Neu-Delhi sagt ja, sie sei entschlossen, Ende | |
Oktober/Anfang November Wahlen abzuhalten. Vorher müssten ja auch die | |
kaschmirischen Politiker wieder freikommen. Es ist auf jeden Fall ein | |
Fehler, die Abwesenheit von Massenprotesten auf der Straße als Zeichen der | |
Zustimmung zu werten. Die Leute wissen inzwischen, dass Steinewerfen nichts | |
bringt. Sie werden mittelfristig andere Formen des Protests entwickeln und | |
auch die Rekrutierung der Jugend durch Radikale dürfte weitergehen. | |
13 Aug 2019 | |
## LINKS | |
[1] /Kaschmir-verliert-Autonomie/!5610949 | |
[2] https://www.bbc.com/news/world-asia-india-49294301 | |
## AUTOREN | |
Britta Petersen | |
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